ausgehen und rumstehen
: Mit Vorurteilen bestens unterhalten

Diesmal befinde ich mich auf der anderen Seite der Glasscheibe des „103“ in Mitte. Von außen hat die Bar immer wie ein öffentliches Aquarium auf mich gewirkt: Das große Fenster mit dem roten Licht lenkt den Blick ohne Umwege auf die Insassen, die – das macht den Unterschied zum Zoo aus – gesehen werden wollen. Mir dagegen ist genau dieser Umstand nicht besonders recht, aber ich bin absichtlich mit meiner Freundin Britta hierher gekommen, um mit unseren Vorurteilen gegen die Bar aufzuräumen.

Überraschenderweise treffen wir einen Bekannten. Der ist allerdings auch nur hier, weil seine neue Flamme den Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Ladylike erscheint sie mit zwanzigminütiger Verspätung. Sie hat langes, glattes, hellblond durchgesträhntes Haar, braune glatte Haut und ein schönes Dekolleté, ganz so wie die anderen Frauen in dem Laden auch. Britta und ich rücken diskret einen Zentimeter zur Seite. Die Blondine redet sogleich auf unseren Bekannten ein, und ich vertiefe mich mit Britta ins Gespräch.

„Hier, Mädels“, sagt die blonde Flamme urplötzlich und wedelt entschieden mit einem gefalteten roten Papier vor unserer Nase herum. Wir sehen sie irritiert an und nehmen den Faltflyer entgegen. „Das neue Enthaarungsstudio“, kommentiert sie, „da kann man den ganzen Körper enthaaren lassen und die Haare bleiben sechs Wochen lang weg.“ Verdutzt schauen Britta und ich den Flyer an. „Ist hübsch gestaltet“, sagt Britta vorsichtig. Unschlüssig drehen wir ihn zwischen unsern Fingern hin und her. Achsel: 6 Euro, Bikini: 9 Euro, Bikinitanga: 13 Euro.

Ob die Flamme uns einfach was Gutes tun wollte? Oder wollte sie uns durch die Blume zu verstehen geben, dass wir beide eine Ganzkörperenthaarung dringend vertragen könnten? Als Gesprächseinstieg jedenfalls war die Geste ganz offensichtlich nicht gedacht, denn die blonde Freundin wendet sich direkt nach Übergabe des Flyers wieder unserem Bekannten zu. Mir dämmert langsam, dass sie wahrscheinlich nur die Gelegenheit gesucht hat, ihm einen Eindruck davon zu vermitteln, was er unter ihrer Kleidung vorfinden würde, wenn er – wenigstens im Geiste – den Versuch machte, sich zu vergewissern.

Bei Britta und mir zumindest zeigt ihre Absicht die gewünschte Wirkung. Neugierig untersuchen wir alle freien Hautstellen, die sie präsentiert. Keine Behaarung, nirgends. Während meine Gedanken noch um die Zonen kreisen, in denen Körperhaare zu wachsen pflegen, scheint die Blondine schon längst das Thema gewechselt zu haben. Sie führt die Hände an ihre Brüste und schiebt diese verdeutlichend hin und her, während sie mit ernsthaftem Gesichtsausdruck Erklärungen abgibt. Vielleicht handelt ihr Bericht von einer bevorstehenden oder schon vollzogenen Operation. Andererseits wäre es genauso vorstellbar, dass sie eine andere Frau beschreibt, deren Oberweite sich von der ihrigen unterscheidet.

Britta und ich beschließen, unsere Vorurteile einstweilen zu behalten und sie gegebenenfalls an einem andern Termin auszuräumen. Wir suchen uns zum Ausgleich eine düstere Umgebung. Begierig sauge ich den Anblick der dunkelbraunen Wand im Bergstübl in mich auf und ertappe mich fortwährend dabei, wie ich prüfe, wer unter den Armen rasiert ist und wer nicht. „Haare sind Schmuck – aber nur an der richtigen Stelle“, tanzt der Flyer-Slogan noch zu Hause beim Einschlafen durch meinen Kopf.KATHARINA HEIN