Plaudern mit der Polizei

Fünf Tote und ein Schwerverletzter blieben in der Szene auf der Strecke,die die Polizei als Türken-, Türsteher- oder Kickboxer-„Milieu“ bezeichnet

AUS WIESBADEN HEIDE PLATEN

Die Sicherheitsvorkehrungen sind martialisch. Im engen Flur im Erdgeschoss des Wiesbadener Landgerichts drängen sich seit Prozessbeginn im Juni an jedem Verhandlungstag bewaffnete Polizisten und kontrollieren akribisch jeden, sodass kaum Platz für die Prozessbeteiligten bleibt. Der Saal A 003 ist klein, die Fenster verhängt mit Plastikfolien, die den Einblick von der Straße her verhindern sollen. Es ist viel geschossen worden in den vergangenen vier Jahren in Südhessen. Fünf Tote und ein Schwerverletzter blieben in der Szene auf der Strecke, die die Polizeizeugen abwechselnd als Türken-, Türsteher oder Kickboxer-„Milieu“ bezeichnen. Auf der Anklagebank sitzen der 61 Jahre alte Aydin K. und sein 29 Jahre alter Sohn Ertac. Beide seien für den Tod des 38-jährigen Polat Tekin am 17. Mai 2004 in Oberursel bei Frankfurt mitverantwortlich, sie sollen seinen Tod gemeinschaftlich und aus niederen Beweggründen geplant und vorbereitet haben. Todesschützen seien der zweite Sohn von Aydin K., so die Anklage, Remsi K., und ein weiterer Mann gewesen. Remsi K. wird noch gesucht, dem vierten Tatverdächtigen wurde in der Türkei der Prozess gemacht, er musste dort aber inzwischen wegen eines Verfahrensfehlers freigelassen werden.

Die Geschichte, die als „Blutrache-Fehde“ und als „Türken-Krieg“ durch die Medien ging, hat 2001 mit dem Tod des jungen Kickboxers Devrim B. begonnen. Im April 2003 erschoss dann Orhan K., im Herbst 2004 zu lebenslanger Haft verurteilt, den damals 26-jährigen Ali K., dritter Sohn und Bruder der derzeit Angeklagten, vor der Diskothek „Parkcafé“ in der Wiesbadener Innenstadt. Mit auf der Strecke blieb der vermutete Auftraggeber, der Vater des Devrim B. Ali K., selbst schon tödlich getroffen, tötete ihn mit einem Kopfschuss. Weitere Opfer waren 2003 zwei Männer, einer wurde durch die Fensterscheibe eines Internets-Cafés in Wiesbaden erschossen, einer in Mainz schwer verletzt. Polat Tekin, der bei der Schießerei in der Diskothek anwesend war, sollte vor Gericht als Zeuge auftreten. Kurz vor seiner Aussage wurde er erschossen – unter Mitwirkung von Vater und Sohn K., wie die Anklage behauptet.

Die Fronten im Gerichtssaal sind unversöhnlich. Die Verteidiger der beiden Angeklagten könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist einerseits der umtriebige Ulrich Endres, der die Medien füttert und spektakuläre Auftritte bis zur Penetranz zelebriert, auf der anderen der ruhige, sachliche Rechtsanwalt Thomas Scherzberg. Beide beharren darauf, dass ihre Mandanten mit dem Mord an Polat Tekin rein gar nichts zu tun hätten. Die Beweiskette sei brüchig und reiche für eine Verurteilung nicht aus. Von Blutrache könne keine Rede sein. Die Familie K. sei weltlich orientiert, nicht traditionell, die Kinder, drei Söhne, drei Töchter, in westlichem Lebensstil aufgewachsen. Am Rande stellen sie die Vermutung an, dass die Mordserie ganz andere Ursachen haben könnte, zum Beispiel Verteilungskämpfe rivalisierender krimineller Gruppen. Andere Interpretationen gehen von einem Streit um Raubgut aus.

Gegenüber sitzen als Vertreter der Nebenkläger – Witwe, Schwestern, Bruder und Mutter von Polat Tekin – die Anwälte Anette Flach und Christoph Lang. Sie werfen den Angeklagten vor, Tekin völlig grundlos und willkürlich als Verantwortlichen ausgeguckt und eiskalt getötet zu haben. Er habe, sagen sie, rein gar nichts mit der Schießerei vor dem „Parkcafé“ zu tun gehabt und sei dort nur zufällig gewesen. Er habe nichts gewusst. Dass er eine wichtige Zeugenaussage habe machen wollen, sagt seine Schwester, sei unwahr, eine am Ende tödliche Erfindung sensationsheischender Journalisten.

Das Verfahren ist von Anfang an gekennzeichnet durch Endres fahrige Zwischenrufe und die unentschlossene Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters der 2. Strafkammer, Steffen Poulet. Die bisher gehörten Polizeizeugen haben die Urteilsfindung nicht leichter gemacht. Sie berichteten von einer diffusen „Türkenszene“, in der 2004 „die Luft gekocht“ habe. Sie berichten auch, dass sie zu dem nunmehr flüchtigen und mordverdächtigen Bruder Remsi K. ein „Vertrauensverhältnis“ gehabt hätten. Der sei öfter zu ihnen gekommen, habe „Tipps gegeben“, über dies und das geplaudert. Man habe ihm geglaubt, denn er habe eigentlich selbst Polizist werden wollen, sei aber in der Ausbildung gescheitert. So mag es gekommen sein, dass die Beamten ihm auch glaubten, als er nach der Ermordung seines jüngsten Bruders Ali Polat Tekin als Täter verdächtigte und davon, dass er sich von dessen Familie verfolgt fühle. Die Beamten nehmen den „Hinweis“ ernst, überwachen die Tekins aufgrund der Verdächtigungen. Sie sind sich aber auch nicht ganz sicher, ob die Familie K. nicht ebenfalls auf Rache sinnt. Die Ergebnisse einer der umfangreichsten Observations- und Telefonüberwachungsaktionen versetzen sie in helle Aufregung.

Daraus ergebe sich nämlich eindeutig, so schließt die Nebenklagevertreterin Anette Flach, dass nicht Polat Tekin, sondern die K.s Angst und Schrecken verbreiteten. Sie hätten per Handy gedroht, ihn zu töten, „den Bastard“ verflucht, Mordpläne geschmiedet, den Wohnort Tekins ausspioniert und dessen Auto mit dem Satelliten-Navigationssystem GPS überwacht. Ertac K. habe sich selbst als „Racheengel“ bezeichnet. Sie sollen, so die Staatsanwaltschaft, auch versucht haben, einen bezahlten Killer anzuheuern. Die Polizei aber habe das Opfer wie einen Verdächtigen behandelt, ihn nicht ausreichend vor der Gefahr gewarnt. Er sei unter ihren Augen umgebracht worden. Die Polizei bestreitet das. Man habe Polat Tekin noch an seinem Todestag angeboten, ihn in das Zeugenschutzprogramm aufzunehmen.

Seine Schwester und seine Witwe sehen das anders. Man habe sich bis dahin zwar von den K.s bedroht gefühlt, habe aber das ganze Ausmaß nicht erkennen können und sich selber nicht geschützt, sondern eher als zu Unrecht von den Beamten verdächtigt und schikaniert gefühlt. Mit Kickboxen habe Polat Tekin seit Jahren nichts mehr zu tun gehabt, sei auch sonst in keiner „Szene“ gewesen. Außerdem verbiete sich Blutrache schon deshalb, weil ihre Familie den Aleviten angehöre und diese Religion die Blutrache ablehne.

Der Polizeibeamte Sch. schildert als Zeuge, dass die Atmosphäre in Wiesbaden seit 2003 angespannt gewesen sei, man habe aber dank der guten Zusammenarbeit mit Remsi K. nicht mehr mit einem Mord von Seiten der K.s gerechnet. Er sei absichtlich über die Überwachung seiner Familie informiert worden und davon „sehr beeindruckt“ gewesen. Nach einer Hausdurchsuchung „mit präventivem Charakter“ habe er freiwillig Waffen ausgeliefert. Er habe sich „glaubhaft distanziert“ und versichert, er werde seine Verwandtschaft „ruhig halten“. Man hielt die Gefahr für gebannt und brach die Observation ab.

Im Frühjahr 2004 sei man aber wieder aufmerksam geworden, weil das Landeskriminalamt einen Hinweis auf einen aus Bosnien angereisten Auftragskiller gegeben habe. Dieser Killer habe dann ausgerechnet Kontakt mit Ertac K. aufgenommen. Der Bosnier, der ausgewiesen wurde, sagte vor seiner Abschiebung, dass er sich als „überzeugter Islamist“ für die Tat nicht anheuern lassen wollte.

Für Irritation sorgt ein Aktenvermerk des Beamten, der mutmaßt, dass sich die Familie K. „subjektiv in einer Notwehrsituation gewähnt haben könnte“. Den Vorwurf, dass Polat Tekin unter ihren Augen – polizeilich überwacht – getötet worden sei, wies die Behörde zurück. Tekin habe sich nicht an Absprachen gehalten, obwohl er ausreichend gewarnt worden sei.

Aydin und Ertac K.s Verteidiger bestreiten eine Tatbeteiligung ihrer Mandanten. Alle Verdachtsmomente seien Fehlinterpretationen, alle Indizien nicht beweiskräftig. Man habe zwar am Telefon den Tod des Sohnes Ali betrauert, geschimpft, seinem Zorn Luft gemacht – aber nie einem Mord geplant und schon gar nicht ausgeführt. Dass das Tatauto von einem Bekannten angemietet worden war, die DNA an der Waffe wegen verwandtschaftlicher Ähnlichkeit als die von Remsi K. analysiert wurde, sei nicht ausreichend für eine Anklage gegen Bruder und Vater. Dass bei der Familie immer wieder Waffen beschlagnahmt wurden, sei ihrer Angst geschuldet, und die Schießübungen im Schützenverein seien seit Jahrzehnten Familientradition. Dass in den abgehörten Telefongesprächen einem entfernten Verwandten für eine ungenannte Leistung Vieh und ein Traktor versprochen wurden, habe andere Hintergründe, nie habe man einen Killer anheuern wollen. Aussprüche wie „Wir werden es tun“ und „Wir werden dann feiern“, seien falsch interpretiert worden.

Im Zuschauerraum sitzen an jedem Verhandlungstag die Freunde und Verwandten der K.s, die Mutter, die vietnamesische Ehefrau von Ertac K. Sie signalisieren, dass sie zusammenhalten. Die Angeklagten haben bisher geschwiegen. Ertac K., ein auffälliger junger Mann mit hellen Augen und glatt rasiertem Kopf, wirft Kusshände in ihre Richtung. Er folgt der Verhandlung mit manchmal fast weltabgewandtem Lächeln, nickt, wenn Verteidiger Endres seine Version stützt. Einen Dolmetscher braucht er nicht. Zum Beginn der Verhandlung hat er seinen Vater kniend begrüßt. Der sieht auch im Anzug aus wie einer, der vom Land gekommen ist, klein, harmlos, die dunklen, schütteren Haare zerrauft. Er meidet Gefühlsregungen. Das Verfahren wird am Freitag fortgesetzt.