Für Autisten ein Entwicklungsland

INKLUSION Es gibt in Deutschland mehr Autisten als Menschen mit Down-Syndrom. Dennoch gibt es für Menschen mit Kommunikationshandikaps kaum Platz im Schulsystem. Zwei Fälle sind Max und Alexander, die um Schulbegleiter kämpfen

■ Fall Max Klemm: Die Familie Klemm klagte vor dem Sozialgericht Karlsruhe darauf, dass Max eine pädagogische Schulbegleitung bekommt. Anfang August erhielten die Klemms vor Gericht zwar Recht, doch die Sozialbehörde weigert sich weiterhin, die Mittel zu zahlen und geht in Revision. Zu Gründen will sich das Sozialamt im Einzelfall nicht äußern.

■ Situation in Deutschland: 2009 hat Deutschland die UN-Behinderten-Konvention ratifiziert. Sie schreibt ein inklusives Schulsystem vor: Nicht die Schüler müssen sich anpassen, sondern es muss eine Regelschule geschaffen werden, in der alle Kinder mitlernen können. Bisher gehen nur wenige Kinder mit Behinderung auf die Regelschule.

VON KAREN GRASS

Zwischen halb neun und zehn ist Max Klemm mitten drin. Während seine Mitschüler in der Freien Evangelischen Montessori Schule Karlsruhe in der Freiarbeitszeit schriftliche und mündliche Aufgaben bekommen, nimmt der Achtjährige eine Bildkarte nach der anderen vom Tisch. Die Aufgaben, die darauf beschrieben sind, arbeitet er dann Stück für Stück ab – puzzeln, Bausteine sortieren, Gegenstände zuordnen.

Max ist frühkindlicher Autist. Wegen dieser Kommunikationsblockade kann er noch nicht sprechen. Sobald es für seine Mitschüler in den Frontalunterricht geht, beginnt für Max momentan noch der Einzelunterricht. Doch in einer sozialen Lerngruppe bereitet er sich gerade auf den nächsten Schritt vor: sobald wie möglich am Regelunterricht teilzunehmen.

Trotz all dieser Bemühungen kann sich Max nicht sicher sein, ob er im Nebeneinander von Regelschule und Sonderschule überhaupt seinen Platz finden wird. Möglich ist Max’ Schulbesuch bisher nur, weil seine Eltern viel Geld und Zeit aufwenden. „Politik und Verwaltung zeigen kein Interesse daran, dass Max in der normalen Schule mitmachen kann“, sagt seine Mutter Sabine Klemm. Das bekam sie erstmals zu spüren, als die Schulaufsichtsbehörde Karlsruhe sich vor einem Jahr weigerte, die Hilfen für den Schulbesuch zu bezahlen. Eine Assistenz, die Max laut mehrerer psychiatrischer Gutachten benötigt.

Im Jahr 2009 gingen bundesweit nur 15,7 Prozent der Kinder mit Behinderung auf eine normale Schule und lernten mit Kindern ohne Behinderung. Etliche Menschen, etwa Kinder mit Autismus wie Max Klemm, passen dagegen in keines der Muster, die das Schulsystem mit der Aufteilung in Regel- und Sonderschulen vorsieht.

Max Klemm sollte auf die Regelschule gehen und inklusiv beschult werden, das stand für seine Eltern fest. Damit dies gelingen kann, ist eine autismusspezifische Unterstützung notwendig. Doch die Schulaufsicht Karlsruhe bot nur an, dass Max Förderung für geistig behinderte Menschen bekommen könnte. In Baden-Württemberg gibt es keine Fördermittel für Pädagogen, die Autisten an die Regelschule begleiten könnten. „Er ist aber nicht geistig behindert, sondern vorrangig autistisch. Die Behörden würden Geld für eine Förderung ausgeben, die Max gar nicht helfen würde“, sagt Sabine Klemm. Seit einem Jahr kommt die Familie stattdessen selbst für die monatlichen Kosten für die Pädagogin auf.

Hanns Rüdiger Röttgers, Professor für Gesundheitswissenschaft an der Fachhochschule Münster, hält Deutschland in Sachen Autismus und Bildung für ein Entwicklungsland. Neuesten Studien zufolge sind 0,6 Prozent der Bevölkerung autistisch, damit tritt die Behinderung dreimal häufiger auf, als das Down-Syndrom. Dennoch gebe es in der Bevölkerung insgesamt, vor allem aber in Behörden kaum Kompetenzen im Umgang mit Menschen mit Autismus, sagt Röttgers.

„Wenn ein Kind nicht sprechen kann, steht für die Verantwortlichen in den Schulaufsichtsbehörden meist fest, dass das Kind geistig behindert sein muss“, sagt der Leiter des Projektes Münsteraner Intensivtherapie für Autismus-Spektrum-Störungen. Doch das sei häufig eine glatte Fehldiagnose. „Die Kinder werden so oft mehr geschädigt als gefördert.“

Probleme mit Sprache und sozialer Kommunikation zählen tatsächlich zu den Kernsymptomen für Autismus. Während das sogenannte Asperger-Syndrom vor allem zu auffälligem Sozialverhalten führt, lernen Menschen mit frühkindlichem Autismus oft nicht oder nur eingeschränkt sprechen. Röttgers und andere Experten sind aufgrund ihrer Forschungsergebnisse jedoch überzeugt, dass auch diese Kinder mit früher Förderung und alternativen Lernmaterialien wie Bildkarten ein erstaunliches intellektuelles Niveau erreichen können. Stattdessen landeten neun von zehn Menschen mit frühkindlichem Autismus in einer Schule für geistig Behinderte und langfristig unweigerlich in einer Werkstätte für behinderte Menschen, so Röttgers. „Dort sind die Menschen mit Autismus dann häufig ein Leben lang abgeschoben.“

„Neun von zehn frühkindlichen Autisten landen in Schulen für geistig Behinderte“

Auch Alexander Schaafs Bildungsweg sah lange nicht nach einer Erfolgsgeschichte aus. Dazu, dass der Lockenkopf nicht schreiben lernte und sich unter den Schultisch verkroch, wenn er die vielen Stimmen nicht mehr ertragen konnte, sagten die Ärzte: „Hochbegabte sind eben anders.“ Doch die Probleme mit den Klassenkameraden und Lehrern wurden größer, Alexander sollte die Schule verlassen.

Der 13-Jährige hat das Asperger-Syndrom, eine Autismusform, bei der die Menschen über eine normale bis überdurchschnittlich ausgeprägte Intelligenz verfügen, aber wenig soziale Kompetenzen haben. Wie Alexander Schaaf entsprechen die Betroffenen meist nicht dem klassischen Bild eines Menschen mit Behinderung, man sieht ihnen ihre Besonderheiten nicht an. Ihr Verhalten fällt umso mehr auf, Probleme im sozialen Umfeld sind vorprogrammiert.

„Früher bin ich öfter mal ausgerastet, das war nicht immer ungefährlich, ich habe kein Schmerzempfinden“, sagt Alexander. Seine blauen Augen funkeln bei diesen Worten über der Stupsnase aus dem Gesicht hervor. Seine Mutter Kerstin Schaaf erinnern sie an eine Odyssee durch diverse Arztpraxen. „Keiner hat etwas erkannt, bei den Behörden und in der Schule hieß es, seine Verhaltensauffälligkeit käme durch Vernachlässigung“, sagt die 43-Jährige. Das Jugendamt drohte schließlich, ihr das Sorgerecht zu entziehen. Dieser Kampf endete erst, als nach fünf Jahren der Suche eine Potsdamer Psychologin Asperger-Syndrom diagnostizierte.

Stattdessen begann ein neuer Kampf: Der um inklusive Beschulung. Denn die Schulaufsichtsbehörde hielt es für den Autisten Alexander für angebracht, eine Sonderschule zu besuchen. Doch das kam für ihn und seine Mutter nicht infrage. Um seine Aggressionen abzubauen und zu lernen, seine Konzentration zu schärfen, fing Alexander Schaaf eine Autismustherapie am Oberlinhaus in Potsdam an.

Die Psychologen, Heil- und Rehabilitationspädagogen in dem Autismustherapiezentrum versuchen, Autisten mit speziellen Therapien für die Herausforderungen des Alltags zu wappnen. Für Alexander funktionierte das unter anderem über Theater- und Filmprojekte. „Da haben wir sogar improvisiert“, sagt Alexander. Wie er leben drei von vier Patienten im Oberlinhaus mit Asperger-Syndrom. „Die Therapiegruppen stellen für die Patienten gute soziale Lernräume dar“, sagt sein Therapeut Maik Teriete, der Leiter des Autismustherapiezentrums ist. „Autisten mit Asperger-Syndrom haben oft keine Geduld, doch wenn sie auf andere mit demselben Problem treffen, müssen sie sich zusammennehmen.“ Das sei eine unerlässliche Übung für den Schulalltag.

Das sahen die Potsdamer Behörden anders, obwohl die brandenburgische Kultusbehörde im Gegensatz zu der in Max Klemms Heimat spezielle Fördermittel für Autisten vorsieht. Die Sozialbehörde Potsdam stellte die Mutter vor die Wahl: Förderung durch eine Autismustherapie – oder Schulhelfer für die Regelschule? „Wer sich keinen Anwalt leisten kann, hat Pech gehabt“, sagt Kerstin Schaaf.

„Wenn ein Kind nicht sprechen kann, wird es für geistig behindert gehalten“

Sie konnte und setzte so den Schulhelfer durch. Nur dank ihm konnte Alexander weiter auf seine normale Grundschule gehen und wechselte im vergangenen Sommer auf eine Potsdamer Gesamtschule. „Die meisten Lehrer bei uns können nicht mit Menschen umgehen, die anders sind als sie“, sagt Alexander Schaaf. Das ist nur einer der sehr direkten Sätze, die der 13-Jährige in schneller Folge raushaut.

Er springt unvermittelt auf und macht Liegestützen. Die Erinnerung an die letzte Matheklausur, die er seiner Ansicht nach nur aus Zeitmangel nicht geschafft hat, spannt ihn an.

Um mit solchen Besonderheiten umgehen zu können, brauchen Kontaktpersonen Wissen über die Behinderung. „Sonderpädagogische Kernkompetenzen bei allen Lehrkräften sind die einzige Möglichkeit für Inklusion“, sagt Teriete. Wenn mehr Kinder mit Behinderung in die normalen Klassen kämen, könnten alle Schüler etwas davon haben. Nicht nur, weil sie dann im Alltag selbstverständlicher mit behinderten Menschen umgehen könnten. Sondern ganz praktisch: Kinder mit Autismus wie Alexander Schaaf oder Max Klemm aus Karlsruhe brauchen klare Arbeitsanweisungen und eine positive Lernumgebung. Nur so kann Max mithilfe seiner speziellen Lernmaterialien im Unterricht folgen.

Mit Blick auf ihre beiden anderen Kinder malt sich Sabine Klemm manchmal aus: Müssten die Lehrer auch in ihren Klassen klare Arbeitsanweisungen geben, auch Anstrengung und nicht nur Ergebnisse honorieren – „welche Potenziale könnten meine ,gesunden‘ Kinder wohl in so einer Atmosphäre freisetzen?“