„Die Topografie erschwert den Kontakt“

DEUTSCH-DEUTSCH 50 Jahre nach Mauerbau wanderte Angelika Hirsch von West nach Ost quer durchs Land. Und machte eine überraschende Entdeckung

■ wurde 1955 in Anklam geboren. Nach einen Fluchtversuch 1974 saß sie zehn Monate in Haft. Nach der Wende studiert sie Judaistik und Religionswissenschaften in Berlin. Heute arbeitet sie in der Erwachsenenbildung, als Beraterin und Autorin. Ihr Buch „Quer. Eine west-ost-deutsche Wanderreportage“ kann auf www.verkanntenverlag.de bestellt werden.

taz: Frau Hirsch, Sie sind anlässlich des 50. Jahrestages des Mauerbaus mit ihrem Mann Lothar Köster 900 km von West nach Ost gelaufen. Wieso?

Angelika Hirsch: Wir sind als leidenschaftliche Wanderer auch schon über die Alpen von München nach Venedig gelaufen. Dann hat uns die Muse geküsst, einmal von West nach Ost durch Deutschland zu laufen. Vom Geburtsort meines Mannes, Essen, bis zu meinem, Anklam.

Die Idee, darüber ein Buch zu schreiben, kam erst danach?

Nein. Es war relativ schnell klar, dass es eine Erkundung wird. Schon vor der Tour habe ich angefangen, das Buch zu konzipieren. Ich hatte meinen Laptop dabei, es war nicht einfach Urlaub.

Warum zu Fuß?

Beim Wandern hat man eine ganz intensive Landschaftserfahrung. Unser Projekt könnte man „experimentelle Heimatkunde“ nennen, so wie es experimentelle Archäologie gibt.

Sind die Unterschiede zwischen West und Ost noch groß?

Relativ stark. Es gab immer wieder so kleine Inseln. Hätte man mich dort mit verbundenen Augen hingebracht, hätte ich behauptet, ich sei im Osten. Obwohl ich im Westen war. Aber die ganzen Klischees, etwa dass die Menschen im Westen weniger an die Menschen im Osten denken als umgekehrt, die tauchten in Unterhaltungen sehr oft auf. Ein Aha-Erlebnis war, dass wir die Ursache dafür während der Reise plötzlich woanders sahen.

Nämlich?

Deutschland ist geografisch längs gefaltet. Zwischen Mecklenburg und Sauerland liegen nicht nur ein paar hundert Kilometer, sondern Flüsse und Berghänge. Im Auto hätten wir das gar nicht gemerkt. Zu Fuß musste man über jede Hügelkette. Da ist mir total klar geworden, dass das auch mit den Kontakten so geht. Die Topografie macht Nord-Süd-Kontakte leichter als Ost-West-Kontakte. Aber natürlich hat es auch andere Gründe.

Gab es außer Klischees auch Unterschiede, die man sehen und fühlen konnte?

Durch die Langsamkeit – wir waren ja 32 Tage unterwegs – hat man eine unglaubliche Intuition für die Orte, an denen man ist. Das war im Westen schon so. Im Osten dann ganz stark, zum Teil auch, weil gerade Wahlkampf war. Wir sind durch das ganze NPD-Land gegangen. Man sieht es und riecht es. Man sieht, ob ein Ort depressiv ist oder nicht. In Tangermünde hat es geregnet wie Buttermilch, aber der Ort hat gebrummt. Ein paar Tage später in Havelberg waren wir bester Laune, die Sonne schien, aber man hat diese tiefe Depression gespürt. Das ist keine blühende Landschaft, habe ich gedacht.

Sie waren sechs, als die Mauer gebaut worden ist, und haben dann in der DDR gewohnt. In Ihrem Buch erwähnen Sie die „typische DDR-Atmosphäre“. Was genau meinen Sie damit?

Dass alles eng war, zugeteilt, eingeteilt, normiert. Der Alltag war kartiert, es gab weder Raum noch Möglichkeiten für Individuelles.

Haben Sie davon auf Ihrer Reise noch etwas gespürt?

Auch, immer wieder. Etwa in kleinen Orten in der Prignitz. Da hat man den Eindruck, die Menschen sind in der neuen Welt noch nicht angekommen. Eine Frau in Neustrelitz sagte mir, die jungen Leute müssten die Füße noch ein paar Jahre still halten, bis die Alten abgedankt haben, dann erst könnte was Neues passieren.

Im Buch verbinden Sie „Heimat“ mit dem Begriffspaar „heimlich – unheimlich“. Welchen Schattenseiten von Heimat sind Sie begegnet?

Diesen ganzen DDR-Geschichten. Ich saß nach einem Fluchtversuch mit 18 in Haft. Ich konnte nicht studieren, weil ich nicht in der FDJ war. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich auch an diese ganze Enge im Denken und Urteilen. Während der Reise habe ich mich tierisch über diese Müllhaufen aufgeregt. Mein Mann sagte dann immer zu mir, das gibt’s im Westen auch. Aber ich hab das im Westen nie gefunden, dieses Schlampige. Daran habe ich mich auf der Reise abgearbeitet und auch damit versöhnt. INTERVIEW: NIKOLA ENDLICH