Streit ums Cornern: Kleine Freiheit in Gefahr

Hamburg entscheidet über ein Außer-Haus-Verkaufsverbot von Alkohol – und damit übers Cornern. Dabei ist es eine politische und kulturelle Bewegung.

Eine Flasche Bier in der Hand eines Fußgängers berührt den Schalter einer Ampel

Prost, Schanze, altes Haus! Foto: Andreas Herzau/laif

St. Pauli und die Schanze, wie das Schanzenviertel liebevoll genannt wird, sind die Viertel meiner Kindheit. Im steten Wandel wechseln sie ihre Gesichter wie kaum ein anderer Stadtteil in Hamburg. Die Menschen, die Gebäude, die Infrastruktur verändern sich gefühlt täglich. Als ich nach 17 Jahren in Berlin wieder nach Hamburg zurückkehrte, erkannte ich schmerzhaft, dass diese Viertel in den letzten Jahren denselben wirtschaftlichen Zwängen und demselben sozialen Druck ausgesetzt waren wie der Ostteil von Berlin.

Wo einst in inhabergeführten kleinen Kneipen und Bars, die aus einer lebendigen Stadtteilstruktur und -kultur entstanden sind, die Stammkunden mit Korn und Bier abgefüllt wurden, stehen heute touristische Saufhallen, die mit dem ursprünglichen Geist der Rotlichtmeile auf St. Pauli kaum noch etwas verbindet. Wo einst die Betreiber und das Gaunermilieu ein Biotop geschaffen haben, in dem ein Teil des dort verdienten Geldes auch wieder ausgegeben und in dem gemeinsam gefeiert wurde, steht heutzutage die Druckbetankung von Touristen und Arbeitnehmern aus den Randbezirken auf der Karte. Deren Ausbruch aus dem tristen Büroalltag findet vornehmlich zu Zeiten statt, in denen die Hamsterräder stillstehen und die die Öffnungszeiten diktieren, die tatsächlich dem bürgerlichen Rhythmus angepasst wurden.

Läden, die 24/7 geöffnet haben und die all denen, die aus dem bürgerlichen Raster fallen und dem soliden Leben den Rücken kehren, gibt es auf St. Pauli nur noch wenige. Sie waren die DNA und damit die Keimzelle für Stadtviertel, in denen Toleranz und Vielfalt ganz einfach gelebt wurden. An solchen Orten kann sich Neues, können sich Kunst und Kultur fernab von kommerziellem Zwang entwickeln.

Heute sieht die Realität anders aus und wo einst Rock ’n’ Roll gespielt und gelebt wurde, wird ein Musical nach dem anderen gegeben. Lange hat sich niemand beschwert über das Schwinden der alten Läden, schon gar nicht die Betreiber sogenannter moderner Etablissements, deren Kassen dank Touristenschwemme und Massen angehender Eheleute aus der Provinz, die auf dem Kiez zum letzten Mal die Sau rauslassen, klingelten. Während das Knistern der Scheine am Ende der Woche Musik in ihren Ohren ist, plagt die Kakofonie besoffener und grölender Feiernder die Anwohner auf St. Pauli und in der Schanze auf eine neue und quälende Weise.

Verdrängung und Gewinn

Wo einst ein Biotop war, steht heute die Druckbetankung von Touristen auf der Karte

Den Betreibern war das egal und sie gingen erst auf die Barrikaden, als die Anzahl der Kioske wuchs, die den Partygästen Drinks to go zu deutlich niedrigeren Preisen anboten. Plötzlich sollte der Staat eingreifen und ihre Existenzen als schützenswert anerkennen und verteidigen. Die, die erst zur Verdrängung der alten Strukturen beigetragen hatten und satte Gewinne einfuhren, spürten nun am eigenen Leib und im eigenen Portemonnaie, was es bedeutet, von Billiganbietern überrollt zu werden.

Noch vor zwei Jahren habe ich selbst eine große Demo gegen die Kiosk-Explosion organisiert, in der Hoffnung, den inhabergeführten Läden Gehör zu verschaffen. Heute weiß ich, dass die DNA dieser besonderen Stadtteile da schon längst auf dem Altar einer neoliberalen Politik geopfert wurde. Und so stehe ich einer neuen kulturellen Entwicklung, die sich seit einiger Zeit sowohl auf St. Pauli als auch im Schanzenviertel beobachten lässt und die bereits zu heftigen Debatten geführt hat, durchaus positiv gegenüber: dem Cornern. Es stellt quasi das logische Ende einer Entwicklung dar, in der erst die Systemgastronomie und die gewinnmaximierten Saufbuden die alten Läden fraßen, bevor sie von den Kiosken gefressen wurden.

Jetzt frisst eine neue Kultur des Feierns und Zusammenseins sie alle, wobei die Kioske vielleicht noch am besten abschneiden. Dennoch bringen viele ihre eigenen Getränke mit, wenn sie sich auf Straßen, Plätzen und innerstädtischen Grünflächen zusammenfinden. Während man vielleicht noch nachvollziehen kann, dass die Gastronomie das Cornern verteufelt, weil es ihnen schlicht Einnahmen raubt, lässt sich das Gemecker von Anwohnern und der Allgemeinheit für mich nicht nachvollziehen. Stadt ist öffentlicher Raum, Stadt ist lebendig – und es gibt ebenjene Stadtteile, deren Geschichte sich durch eine besondere Lebendigkeit auszeichnet.

In Hamburg sind das St. Pauli und das Schanzenviertel, während das öffentliche Leben in Berlin sich breiter verteilt. Vielleicht, weil die Bürgersteige einfach breiter sind. Oder das kontinentale Klima das sich Im-Freien-Aufhalten begünstigt. Oder weil die Spätis bis heute überlebt haben und als Symbol eines Lebensstils jenseits von „Nine to five“ gepflegt werden.

Das am meisten gebrauchte Argument der Anticornerer ist die angebliche Lärmbelästigung. Das finde ich lächerlich. In Hamburg und Berlin erlebe ich die von Menschen erzeugte Geräuschkulisse, die sich unter freiem Himmel an lauen Sommerabenden bei ein paar Drinks unterhalten, als wunderbaren und lebendigen Großstadtsound. Er klingt so viel harmonischer als das Grölen und Pöbeln besoffener Touristen, die sich mit Wodka-Bomben für zwei Euro das Hirn wegschießen, torkelnd durch die Straße ziehen und Hauseingänge vollkotzen und -wände vollstrullen. Das hat mit Kultur absolut nichts zu tun.

Das Cornern hingegen ist eine Kultur, eine Bewegung, eine bewusste Entscheidung. Ein paar schöne Drinks an einem langen Sommerabend in angenehmen Ambiente kosten schnell mal 50 Euro. Das ist nicht nur für Studenten oder Auszubildende viel Geld, sondern auch für mich als freier Autor und Schriftsteller. Günstiger bedeutet dann in der Regel billiger Fusel und weniger schöne Umgebung. Macht dann auch keinen Spaß. Aber zwei bis drei Flaschen meines Lieblings-Crémants, die ich bei meinem lokalen Weinhändler für 10 Euro die Flasche bekomme und die ich auf einer Decke unterm Baum oder auf der Mauer sitzend mit Freunden teile, dabei mit netten Menschen ins Gespräch komme und mich als Teil meiner Stadt wahrnehme – das ist für mich gelebte Stadtteilkultur. Ich möchte nicht gezwungen sein, mein Viertel nur dann erleben und genießen zu dürfen, wenn ich konsumiere. Beides mag ich gerne – das Cornern und das Verweilen in einer schönen Bar oder Kneipe. Doch ich möchte die Wahl haben. So wie die Betreiber die Wahl haben, sich ebenfalls als gestalterischen Teil ihrer Umgebung zu sehen, der die Anwohner mit einschließt.

Unter freiem Himmel

Und nochmal zum Thema Lärm: Vor allem in Hamburg sprechen wir von zwei Monaten im Jahr, in denen wir jede Minute unter freiem Himmel genießen sollten. Schließlich hat man sich für das Leben in einem bestimmten Stadtteil entschieden, dessen Geschichte sich zu respektieren lohnt. Ansonsten sieht es bald überall gleich aus und es werden in Großstädten die Bürgersteige um 22 Uhr hochgeklappt. Wer das braucht, ist auf dem Land vielleicht besser aufgehoben. Allerdings nicht zur Laichzeit, denn dann legen die Frösche nach Sonnenuntergang so richtig los.

Lebendigkeit bedeutet Lärm und ich finde, das Cornern klingt ganz gut. Außerdem müssen wir uns in Zukunft ja sowieso mehr nach draußen orientieren, wenn wir Zeit mit anderen Menschen verbringen wollen. So gesehen sind die Cornerer echte Trendsetter und ihrer Zeit einen großen Schritt voraus gewesen. Und die Kulturbetriebe sind durch das Cornern nicht ersetzbar. So gesehen findet nicht nur eine Verlagerung von inhaltslosem Saufen im Innenbereich hin zum Cornern statt, sondern es besteht vielleicht eine echte Chance für die Gastronomie mit kulturellem Inhalt, die jetzt die einzige und wirkliche attraktive Alternative zum Cornern bietet.

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