Jahrestag Wehrhahn-Anschlag: 20 Jahre ohne Klarheit

Am 27. Juli 2000 verletzt in Düsseldorf eine Bombe zehn Menschen, darunter viele Juden. Ein ungeborenes Baby stirbt. Verurteilt wurde dafür bis heute niemand.

Rosen stecken im Metallgitter eines Zauns am S-Bahnhof Wehrhahn

Stille Erinnerung: Mit Rosen wird der Opfer des Anschlags am S-Bahnhof Wehrhahn gedacht Foto: dpa

DÜSSELDORF dpa | Der Sprengsatz war in einer Plastiktüte versteckt: Am 27. Juli 2000 um 15.04 Uhr explodiert am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn eine Rohrbombe und richtet ein Blutbad an. Ein Metallsplitter durchbohrt ein ungeborenes Baby im Bauch seiner Mutter und tötet es. Unter den zehn Verletzten sind mehrere jüdische Einwanderer aus Osteuropa. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) spricht von einer „abscheulichen Tat“.

Am Montag – 20 Jahre nach dem Anschlag – wollen Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) und Vertreter der jüdischen Gemeinde an dem Bahnhof Kränze niederlegen und Reden halten. Möglicherweise spricht auch ein Opfer des Anschlags. Seit Mai erinnert eine Gedenktafel an der Brücke über die Gleise an die Tat und an die Opfer rassistischer Gewalt.

Wer den Anschlag beging, steht bis heute nicht endgültig fest: Ein rechtsradikaler ehemaliger Militaria-Händler, der in der Nähe wohnte, wurde vor zwei Jahren vom Düsseldorfer Landgericht freigesprochen. Rechtskräftig ist das Urteil allerdings noch nicht.

Wegen des Anschlags wurden 1.500 Menschen befragt, mehr als 300 Spuren verfolgt, 450 Beweisstücke eingesammelt. Der Militaria-Händler, der in der Nähe wohnte, geriet schon bald ins Visier der Ermittler. Er wurde vernommen – und wieder freigelassen.

Viele Indizien – aber für eine Verurteilung reicht es nicht

Jahre nach dem Anschlag gerät ein ehemaliger Leibwächter Osama bin Ladens unter Verdacht, als er zugibt, Anschläge auf Juden in Düsseldorf geplant zu haben. Doch der Islamist hat ein Alibi: Er befand sich zur Tatzeit in einem Al-Qaida-Camp in Afghanistan.

Nach Bekanntwerden der Mordserie des NSU sind die Ermittler elektrisiert, aber ein Umstand spricht sofort dagegen: Der Düsseldorfer Anschlag fehlt auf der Bekenner-DVD des NSU. Es lässt sich auch nicht ermitteln, ob das Trio zur Tatzeit in Düsseldorf war. Handfeste Beweise wie Fingerabdrücke oder DNA-Spuren sind durch die Hitze der Explosion buchstäblich verdampft.

Dann gibt ein Gefangener in einem NRW-Gefängnis zu Protokoll, ein Mithäftling habe ihm gegenüber damit geprahlt, er habe „an einem Bahnhof Kanaken weggesprengt“. Bei dem Mann handelt es sich um den Militaria-Händler, der in anderer Sache hinter Gittern sitzt. Das bringt die Ermittlungen wieder in Gang. Akribisch tragen die Ermittler zusammen, was den inzwischen 54-Jährigen belastet: von seiner Tätowierung, die die Wewelsburg zeigt, die Kaderschmiede von SS-Chef Heinrich Himmler, bis zu zahlreichen Zeugenaussagen.

Die Sprachschule, in die die Opfer gingen, lag gegenüber seinem Laden. Es hatte Ärger gegeben zwischen Schülern und seiner Skinhead-Kundschaft. Ex-Freundinnen sagen aus, der Verdächtige habe dunkle Ankündigungen gemacht. Bei ihm wird die Bedienungsanleitung eines Fernzünders gefunden. In einem mitgehörten Telefonat äußert er sich über das Baby, das getötet wurde. Das sei doch „nur Abtreibung“, was er gemacht habe, – und verbessert sich dann: „gemacht haben soll“. Kurz nach dem Anschlag soll er zudem einen stadtbekannten Neonazi angerufen und ihn – vergeblich – um ein Alibi gebeten haben.

„Ich werd die hochjagen“

Am Tatort habe ein dunkles Auto geparkt, darin hätten die wahren Täter gesessen, behauptet der Verdächtige. Er will zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen sein. Stattdessen beteuert er, zu Hause gewesen zu sein, als die Bombe unweit seiner Wohnung ferngezündet wird – just in dem Moment, in dem die Gruppe Sprachschüler die Stelle passiert. Wie denn sein Hund auf den Knall reagiert habe, fragt ein Ermittler. Wie er das denn wissen solle, der „war doch zu Hause“, entgegnet er. Aus Sicht der Ermittler hat er sich damit ein weiteres Mal verraten.

Zwei Jahre nach dem Anschlag wird in einem Wohnmobil am Düsseldorfer Rheinufer Sprengstoff vom Typ TNT sichergestellt und eine Schachtel für sechs elektronische Zünder. Ein Zünder fehlt. Es ist das Wohnmobil eines Bekannten des verdächtigen Militaria-Händlers. Die Bedienungsanleitung für genau jenen Zünder fand sich nach dem Anschlag in seiner Wohnung. Bei dem Versuch, dies zu erklären, verstrickt sich der Verdächtige in Unwahrheiten und Widersprüche.

Die Staatsanwaltschaft spricht von „erdrückender Beweislast“. Wegen zwölffachen Mordversuchs kommt der Rechtsradikale vor Gericht. Doch dort bestreitet er seine Täterschaft hartnäckig – mit Erfolg.

Eine Ex-Freundin sagt aus, die Rohrbombe in der Küche des Verdächtigen gesehen zu haben. Der Polizei sagt sie auch, er habe die Tat angekündigt: „Ich werd die hochjagen.“ Doch im Prozess ist sie sich nicht mehr so sicher. Der Mithäftling, dem er die Tat gestanden haben soll, ist wegen Betrugs vorbestraft. Die Verteidigung argumentiert erfolgreich, er könne es auf die Belohnung abgesehen haben.

Zwar räumt der Vorsitzende Richter Rainer Drees ein, dass der Mann, den eine Zeugin am Tatort auf einem Stromkasten sitzen sah und der nach der Explosion verschwand, dem Angeklagten ähnelte. „Die Ähnlichkeit belastet den Angeklagten am stärksten“, stellt Drees fest. Für eine Verurteilung reiche dies aber nicht, auch wenn der Fremdenhass des Angeklagten gut belegt sei. Die Hauptbelastungszeugen hätten sich in Widersprüche verwickelt, konstatiert der Richter.

Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil aufheben, müsste der 54-Jährige erneut vor Gericht. Andernfalls dürfte es unwahrscheinlich sein, dass der Anschlag jemals aufgeklärt wird.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Mit der taz Bewegung bleibst Du auf dem Laufenden über Demos, Diskussionen und Aktionen gegen rechts.

Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.