Filmfestival von San Sebastián: Wieder in Anwesenheit des Publikums

Nach dem Filmfestival in Venedig zeigte man nun auch in San Sebastián Präsenz – zumal mit einem erstaunlich resilienten Filmjahrgang.

Es regnet heftig, auf der leeren Straße kniet eine Frau, die einen liegenden Mann in ihren Armen hält

Szene aus der Serie „Patria“, einer Auseinandersetzung mit dem Trauma des ETA-Terrors Foto: David Herranz/HBO Nordic AB

Xirimiri heißt der leichte Nieselregen im Baskenland, der zunächst nach wenig aussieht, sich aber über Tage hinziehen kann, erst langsam klamm macht, bis er durch alle Schichten einsickert und schließlich bis auf die Knochen durchnässt. Er wurde zum Sinnbild in Fer­nando Aramburus Romanepos „Patria“ über Vergessen, Vergeltung und Versöhnung in der vom ETA-Terror traumatisierten Region.

Die Verfilmung des Bestsellers war nun der wichtigste spanische Beitrag auf dem Internationalen Filmfestival in San Sebastián, das am Wochenende zu Ende gegangen ist, an ebenjenem Ort, an dem auch der Mehrteiler spielt. Es nieselt nicht bloß, es schüttet oft in Strömen in den acht einstündigen Episoden, in denen Aitor Gabilondo aus verschiedenen Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen die Geschichte zweier ehemals befreundeter Familien erzählt.

Seit dem ungeklärten ETA-Mord an einem der Väter haben sie sich entfremdet. Als die separatistische Untergrundorganisation nach einem halben Jahrhundert und rund 830 Morden offiziell den Waffenstillstand erklärt, kehrt die Witwe in ihr altes Dorf zurück, um die Wahrheit herauszufinden, und stößt dort auf Schweigen und Missgunst.

In gedeckten Farbtönen aufwendig und präzise inszeniert, entsteht eine Atmosphäre, in der die Vergangenheit sich wie ein Schleier über die Gegenwart legt, Schuld und Trauer in das ­Leben der Protagonisten eindringen wie der Xirimiri, das Miteinander verstummen lassen, Beziehungen und Freundschaften vergiften.

Nach über drei Jahren Entstehungszeit und der coronabedingten Startverschiebung im Mai war die Anspannung zur Weltpremiere am Ort des Geschehens, wo bis heute die Wunden der Terrorjahre noch lange nicht verheilt sind, entsprechend hoch. Mit dem parallelen Serienstart am Sonntag auf HBO in Spanien und 26 weiteren Ländern dürften sich nicht nur etliche Vorbehalte relativieren, sondern auch der Diskurs um den Umgang mit der jüngeren Geschichte an Dynamik gewinnen, so verbittert und verhärtet die Fronten auch sind.

Nur ein spanischer Beitrag im internationalen Wettbewerb

Auch einer der zahlreichen baskischen Spielfilme im Festivalprogramm, „Ane“ von David Pérez Sañudo, erzählt von ETA, hier der letzten Generation gewalttätiger Separatisten im Jahr 2009, und einer 17-Jährigen, die in den Untergrund abtaucht. Zwar etwas holprig inszeniert, reflektiert das Drama erhellend die Verwerfungen, die in der Gegend herrschen.

Im internationalen Wettbewerb um die Goldene Muschel selbst fand sich nach einigen starken spanischen Jahrgängen diesmal nur ein einheimischer Beitrag. „Akelarre“ erzählt in oft betörenden Bildern von einer Hexenverfolgung im Jahr 1609, die Pablo Agüeros Film mit großer postmoderner Geste zur misogynen Machenschaft eines Richters gegen junge Feministinnen umdeutet und damit lediglich Mythen der baskischen Geschichte wiederholt, ohne eine eigene Haltung zu haben, und sich schließlich mit einem mutlosen Ende aus der Affäre zieht.

Wie relevant Filmemacher von spanischer Gegenwart erzählen können, zeigen dagegen zwei sehr unterschiedliche Produktionen. Die zweite große Serie des Festivals, „Antidisturbios“, beleuchtet den Alltag einer Polizeieinheit in Madrid. Minutiös wird in der ersten halben Stunde der Einsatz in einem Häuserblock gezeigt, wo sich Dutzende Aktivisten in einer Wohnung verschanzt haben, um deren Räumung zu verhindern.

Auch wenn die sechs Polizisten heillos überfordert sind, gehen sie auf richterlichen Befehl gegen die Besetzer vor, die Situation eskaliert und ein Bewohner stürzt in den Tod. Die Polizeigewalt wird nicht gerechtfertigt, die Serie seziert die Folgen des Manövers, die Nachforschungen, das Vertuschen und die Korruption auf allen Ebenen, die Schreibtischtäter im Hintergrund, die alle Verantwortung abwälzen.

Von staatlichen Räumungen handelt auch „La última primavera“ (Der letzte Frühling), das Regiedebüt der in Brühl geborenen Isabel Lamberti, die dafür zu Recht den Nach­wuchs­preis erhielt. Sie porträtiert eine Roma-Familie, die aus ihrer Barackensiedlung außerhalb Madrids vertrieben werden soll. Die Mitglieder spielen sich in diesem Doku-Fiction-Hybrid selbst und ihre Überlebenskunst am Rande der Wohlstandsgesellschaft wirkt gerade dadurch nie voyeuristisch, sondern selbstermächtigend und sehr würdevoll.

Viel Hochkarätiges ist dem Ausfall von Cannes gedankt

Nach Venedig Anfang September war San Sebastián nun das zweite A-Festival, das seit Beginn der Pandemie in physischer Form stattfand. Und es war stark von Corona geprägt, im Schlechten wie im Guten. Sonst hinter den drei Großen Berlin, Cannes und Venedig immer zweite Riege, bot es diesmal 17 Beiträge des ausgefallenen Cannes-Jahrgangs, darunter Hochkarätiges wie das Coming-out-Vexierspiel „Sommer 85“ von François Ozon und Thomas Vinterbergs Trinker-Tragikomödie „Another Round“, deren Männer-Ensemble um Mads Mikkelsen am Ende gemeinsam den Darstellerpreis erhielt.

Die große Gewinnerin war allerdings eine nahezu Unbekannte: Die Georgierin Dea Kulumbegashvili überzeugte in ihrem Regiedebüt „Dasatskisi“ (Beginn) mit dem bildgewaltigen Porträt einer Frau, die der einengenden Welt der Zeugen Jehovas entfliehen will, die Jury um Präsident Luca Guadagnino derart, dass das Kunstdrama gleich vier Hauptpreise abräumte, die Goldene Muschel als bester Film und Auszeichnungen für Regie, Drehbuch und Ia Sukhitashvili als beste Darstellerin.

„Dasatskisi“ war der alles überragende Film des Wettbewerbs, ein verstörendes Werk, das die Filmsprache erweitert und dessen Bilder nicht mehr aus dem Kopf gehen

Das mag man einseitig finden, doch „Dasatskisi“ war der alles überragende Film des Wettbewerbs, ein verstörendes Werk, das die Filmsprache erweitert und dessen Bilder nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Es wirkte wie ein Wunder, dass dieses Festival trotz einer grassierenden zweiten Infek­tions­welle in Spanien, dem in Europa am stärksten von der Pandemie betroffenen Land, überhaupt stattfinden konnte. Zu verdanken ist es der besonnen und koordiniert agierenden Festivalleitung unter José Luis Rebordinos, die mit großem Aufwand Sicherheitsmaßnahmen installierte. So konnte auch das reguläre Publikum Filme sehen und es wurde vermieden, dass San Sebastián zum abgeriegelten Branchentreff wurde.

All das funktionierte hervorragend und mit gelassener Solidarität fast aller Beteiligten. Nur der französische Regisseur Eugène Green glaubte, seine individuelle Freiheit rechtfertige die Gefährdung von Mitmenschen, und weigerte sich bei der Vorstellung seines Films beharrlich, einen Mundschutz zu tragen. Er wurde schließlich des Kinos verwiesen, seine Akkreditierung entzogen.

Abel Ferraras Überraschungsfim „Sportin' Life“

Am Ende lief mit Abel Ferraras „Sportin’ Life“ noch ein Überraschungsfilm, der wie ein Schlusskommentar auf diesen merkwürdigen, resilienten Festivaljahrgang wirkte. Der widerspenstig-chaotische Filmemacher aus der Bronx hatte erst im Februar auf der Berlinale, dem letzten A-Festival vor dem Lockdown, den Spielfilm „Siberia“ präsentiert und dort alles mit einem Kamerateam dokumentiert: die Premiere am Potsdamer Platz, die Interviews mit peinlich banalen Fragen, das Livekonzert mit seiner Band.

Zurück in seiner Wahlheimat Rom, kommt plötzlich die Welt zum Stillstand, und aus Ferraras Auftragsarbeit für einen französischen Modekonzern wird unversehens ein Film-Tagebuch über die Pandemie, das Leben und die Kunst. Der langjährige, inzwischen cleane Drogensüchtige erweist sich dabei als verquerer Freigeist und Überlebender der eigenen Apokalypse, den so schnell nichts umhaut.

Im kleinen, spärlich besetzten Kellerkino in San Sebastián, wo am letzten Festivaltag noch knapp 40 Akkreditierte für diesen Film ausharrten, tauchte plötzlich Ferrara selbst im Saal auf. Ganz selbstverständlich trug der weißhaarige Kino-­Anarcho solidarisch Mundschutz und plauderte mit dem Publikum.

Zum Abschied reckte der 69-Jährige die Faust in die Höhe und rief: „Stay safe!“ Am Ende ließ sich die Geste wohl auch als Ferraras Mittelfinger an die Unverbesserlichen lesen.

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