Das Denken wird seichter

SEHEN Bisher wurde Erkenntnis über textbasierte Medien gewonnen. Bilder und Symbole verkürzen Kontexte immer stärker – und ändern das Gehirn

Intuitiv suchen wir immer das Kontinuum, das, was weitergeht

VON WALTRAUD SCHWAB

Was Helga Rohra im Supermarkt nebenan kaufen will, schneidet sie aus den Supermarktprospekten aus und klebt es, assistiert von ihrem Sohn, so auf einen Zettel, wie es im Laden angeordnet ist. Vorne links das Toastbrot im Brotregal, dahinter das Schlemmerfilet aus der Tiefkühltruhe, hinten rechts die Butter aus dem Kühlregal, und vorne rechts die Limonade bei den Getränken. Die untere Kante des Zettels markiert dabei, als gäbe es dafür eine stille Vereinbarung, den Eingang zum Laden. Vorn ist eigentlich unten. Mit dieser Landkarte in der Hand geht Rohra einkaufen, was sie tut gleicht einer geografischen Erkundung.

Rohra, die früher Dolmetscherin und Jet-Setterin war, hat Demenz. In ihrem Fall nicht Alzheimer, sondern Frontotemporal – eine Form der Demenz, die mit Hallunzinationen und Orientierungsverlust einhergeht. Aber mithilfe dieser selbst erstellten Landkarte findet sie sich im Supermarkt noch zurecht. Und was viel schwerer wiegt: Sie kann dieses komplexe Bild, in dem dreidimensionaler Raum, Bewegung, Handlung, Interaktion und Dinge wie ein Destillat zusammenfließen, noch „lesen“.

Für Rohra ersetzt der Einkaufszettel die Erinnerung. Ihrem Sohn wiederum, einem Autisten, der sich Sachen wie Fahrpläne oder Statistiken bis ins Detail merken kann und seiner Mutter hilft, alles richtig aufzukleben, scheint es leichter zu fallen, den Zettel herzustellen, als über das Einkaufen zu reden. Die symbolhaft zerlegte Draufsicht auf die Struktur des Supermarktes ist im Falle dieser beiden Menschen wie eine Komposition aus Gedächtnis und Kommunikation.

An der Eselsbrücke, die Mutter und Sohn sich basteln, zeigt sich jedoch mehr. Sie spiegelt Entwicklungen, die von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen immer lauter thematisiert werden: nämlich dass sich unser Denken und in der Folge auch unser Gehirn und unsere Interaktion durch die verstärkte Orientierung an ständig wechselnden Bild-Text-Strömen, wie sie Computer und Internet liefern, verändern.

Viele Leute beobachten, dass es ihnen zunehmend schwerer fällt, einen langen Text zu Ende zu lesen. Stattdessen wird etwa das Scannen, das Checken einer Oberfläche bedeutender. Ob etwas es wert ist, dass man sich damit beschäftigt, wird oft nicht mehr durch kontinuierliches Lesen und damit durch einen schrittweisen, chronologischen Erkenntnisweg entschieden, sondern durch einen kurzen Blick auf eine meist bildlich und textlich verwobene Oberfläche. Relevanz muss sofort erkennbar sein, sei es an Stichworten, an Schlagworten, an Bildern oder einer Kombination aus allem. Darin liegt noch keine Wertung – einzig muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass durch das Neue etwas Altes verloren geht. Einleitungen zum Beispiel.

Vermutungen, dass sich auch unser Gehirn verändert durch die veränderten Kommunikations- und Arbeitsformen, die Computer und Internet mit sich bringen, und die Verschiebung weg von einer analogen Schriftkultur hin zu einer synchronen Bild-Text-Kultur, gibt es schon eine Weile. Nicholas Carr machte in seinem Buch „The Shallows“ 2008 Furore mit seiner These, dass unser Denken durch diese Veränderung seichter werde. Wir nähmen viele Eindrücke schnell und parallel wahr, verlernten aber, in die Tiefe zu gehen.

Allerdings kann wissenschaftlich noch nicht belegt werden, ob das so ist und wie die visuelle Kultur unser Gedächtnis verändert. Bisher gibt es lediglich Forschungen, die belegen, dass es das tut. Studien, etwa der University of California in Los Angeles, in der herausgefunden wurde, dass intensive Internetnutzung die räumliche Intelligenz vergrößere, die Fähigkeit, abstrakte Begriffe sprachlich zu deuten, sich aber verschlechtere, könnten im Sinne von Nicholas Carrs These gedeutet werden und auch die Vorzüge von Helga Rohras Gedächtnislandkarte bestätigen. Beobachtungen des Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther gehen ebenfalls in diese Richtung. Er befürchtet, dass sich der frontale Cortex, jener Gehirnbereich, wo Netzwerke liegen für Empathie, Frustrationstoleranz, Impulskontrolle und Handlungsentwicklung, bei jungen digitalen Multitaskern nicht gut aufbauen könne.

Facebook-Gehirnareale

Betsy Sparrow wiederum, eine Psychologin der Columbia Universität, hat 2011 ein Forschungsergebnis im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht, das zeigt, dass sich Menschen, die das Internet benutzten, weniger die Inhalte, die sie lesen, merken, als vielmehr die Orte im Netz, wo sie sie bei Bedarf wieder nachschlagen können. Und vier britische Wissenschaftler veröffentlichten in der Zeitschrift Proceedings of the Royal Society eine Untersuchung, in der sie belegen konnten, dass bestimmte Gehirnareale, die für soziale Interaktion, Gedächtnis und emotionale Bewertungen wichtig sind, sowohl mit der Zahl der realen, als auch mit der Zahl der Facebook-Freunde wächst. Dass es zudem aber auch Gehirnareale gibt, die nur durch Facebook-Freundschaften aktiviert werden.

Bild-Text-basierte Vermittlungsoberflächen wirken also. Und das Denken, Kommunizieren, Lernen und Begreifen via dieser Bild-Text-Ströme wird immer bedeutsamer. Da stellt sich endlich die Frage, was genau passiert, wenn jemand ein Bild oder eine bildbasierte Oberfläche betrachtet. Aber auch darauf bleiben die Antworten punktuell.

Gerne werden Bilder wie Tatsachen behandelt, ohne sich klar zu machen, dass das, was gesehen wird, auf kulturellen Konventionen beruht. Das hat der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich 1982 in seinem Buch „Bild und Auge“ sehr genau beschrieben.

Zudem werden Bilder in der Regel wie Texte gelesen: Zuerst wird das, was zu sehen ist, beschrieben, danach wird der symbolische Gehalt des Dargestellten rekonstruiert und in einem dritten Schritt wird versucht, diesen symbolischen Gehalt kulturell und historisch einzuordnen. Wie das Bild an sich aber wirkt, darauf gibt es keine Antwort, wie die Schweizer Soziologin Regula Valérie Burri in ihrem Aufsatz „Grundlegungen einer Soziologie des Visuellen“ 2008 schreibt. Um das herauszufinden, müsste auch systematisch analysiert werden, wie Bilder umgekehrt die Wahrnehmung formen, wie der gesellschaftliche Umgang mit dem Bild ist und wie die „sozialen Praktiken seiner Produktion, Interpretation und Verwendung“ aussehen. Was wird gezeigt? Wie wird es gezeigt? Wer zeigt? Der Begriff „Viskurse“ – Diskurse über das Visuelle – wurde in diesem Zusammenhang von der Soziologin Karin Knorr Cetina geprägt.

Wie aber verlaufen diese Viskurse bei der Fülle von Bildern, die in einer Gesellschaft, die von einer chronologischen, textbasierten Vermittlungskultur zu einer dynamischen Text-Bild-Vermittlungskultur wechselt, aufgenommen und verarbeitet werden müssen?

Die Antworten sind erneut nur punktuell, denn Bild ist nicht gleich Bild. Und um überhaupt eine Antwort geben zu können, muss man wissen, wie Bilder im Gehirn wirken. Dabei spielt etwa eine Rolle, dass wir Bilder, die wir sehen, als etwas wahrnehmen, das jenseits des Bildes weitergeht, das aus einem Ganzen ausgeschnitten ist. Und obwohl nur der Ausschnitt gesehen wird, wird das Ganze gedacht. Umgekehrt wiederum kann das Auge ein Ganzes sehen, das Bewusstsein aber nur ein Teilbild analysieren. Aus diesem Grunde wirken etwa auch grafische Symbole. Gesehen wird nur eine Verkürzung, der Kontext indes wird gedacht. Aber „warum unser Gehirn nicht die diskrete endliche Natur wahrnimmt, sondern idealisierte, homogene Bilder bevorzugt, ist nicht ganz klar, doch die Konsequenzen sind weitreichend“, schreibt der Computerphysiker Hans Jürgen Herrmann. Denn intuitiv suchten wir immer das Kontinuum, das, was weitergeht, weil es das Verständnis fördert, auch wenn uns nur der Teilausschnitt bewusst ist.

Rohras Mindmap legt all diese Qualitäten und Fragen offen. Und sie zeigt noch etwas: Lange stand beim Diskurs über Bilder die ästhetische Qualität im Fokus. In einer Kultur, die Text-Bilder-Ströme als Grundlage der Erkenntnis nimmt, werden jedoch die vermittelnden Absichten eines Bildes stärker in den Vordergrund der Diskussion rücken.

Literaturrecherche: Brigitte Marquardt