Schutzmacht der Langsamkeit

Die ostdeutsche Protestantin Angela Merkel geht pfleglich mit dem Erbe von Adenauer und Blüm um. Denn auch sie weiß: Die Volkspartei CDU darf nicht unsozial agieren

Unbeantwortet lässt die CDU allerdings nach wie vor die Fragen nach Staat und Nation

Am Ende ist alles weniger schlimm gekommen als befürchtet. Wenn der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung und bekennende Neoliberale Hans D. Barbier das CDU-Programm mit den Worten kommentiert: „Das Gewurstel soll also weitergehen“, kann es so schlecht nicht sein. Schließlich findet nur strikte Marktgängigkeit vor seinen Augen Gnade. Demgegenüber scheint gerade die Vereinbarkeit von sozialer Gerechtigkeit mit deutscher Wettbewerbsfähigkeit immer noch ein Anliegen der Union zu sein.

Da sich sowohl die Funktionäre der Arbeitgeber wie die der Gewerkschaften unterschiedlich distanziert geäußert haben, ist Angela Merkel erst einmal das Kunststück gelungen, die Union als Volkspartei zu bewahren. Denn das ist ja das Dilemma der unterschiedlichen Politikangebote. Sie werden alle an der kruden Angebotstheorie gemessen, die im Sparen und Lohnsenken das Heil des deformierten Arbeitsmarktes sieht und deshalb das Machtgleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit zu Lasten der Letzteren verschieben möchte.

Während die FDP diese Verschiebung uneingeschränkt begrüßt, möchte die neue Linkspartei mit Lafontaine und Gysi am liebsten zurück zu den Zeiten, da der offene Markt an der Oder-Neiße-Grenze endete. Nur die beiden Volksparteien CDU und SPD suchen in ihren Programmen den Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, da sie die Interessen von Wählern aller Schichten im Auge haben müssen, eben das, worauf Westerwelle und Lafontaine verzichten können.

Wie stark die öffentliche Diskussion inzwischen allein von einem falsch verstandenen Ordoliberalismus bestimmt wird, zeigt die Debatte um VW. Während das Fehlverhalten Einzelner hier sofort in eine Strukturkrise umgedeutet wird, deren Lösung nach Meinung der Ordnungspolitiker nur im Rückzug des Staates und dem Abbau der Mitbestimmung bestehen kann, haben entsprechende Vorfälle in der Privatwirtschaft wie jüngst bei Infineon oder davor bei EM.TV nie den Wunsch nach Verstaatlichung und öffentlicher Kontrolle ausgelöst.

Dass der Staat etwas besser machen könnte als Private, kommt in der öffentlichen Debatte nicht mehr vor, dass Private es immer besser können als der Staat, auch wenn es um öffentliche Aufgaben geht, ist fast ein Gemeinplatz. Vor diesem Hintergrund des Triumphes einer Ökonomie, die das Soziale auch dort an den Markt delegiert, wo Niedriglöhne das Existenzminimum nicht sichern können, bleibt das CDU-Wahlprogramm ein brauchbarer Kompromiss. Denn die vielen Ratgeber aus den Chefetagen der deutschen Wirtschaft können auch einer künftigen Kanzlerin eines nicht aufzeigen: dass Menschen mit Löhnen, die so niedrig wie in den Arbeitsplatzzuwanderungsgebieten östlich von Oder und Neiße sind, zu deutschen Preisen einkaufen können.

Es ist das eine, den Menschen Marktrationalität zu predigen, es ist etwas anderes, sie dafür auch noch um ihre Stimme zu bitten. Angela Merkel hat sich – jedenfalls im Programm – für einen vorsichtigen Umbau ohne Schocktherapie entschieden: Eine Senkung der Lohnnebenkosten bei gleichzeitiger maßvoller Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Zurücknahme des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben, staatliche Zuschüsse für Langzeitarbeitslose zu Niedriglöhnen und ein Spitzensteuersatz von 39 Prozent sind keine Revolution, sondern ein vorsichtiger Versuch, mit zumutbaren angebotsorientierten Dosen deren Wirksamkeit zu testen.

Es mag ja sein, dass in einem überschuldeten Land die Methoden des Lord Keynes wenig Erfolg versprechen, doch die Medizin des Sparens und Kostensenkens, der Eigenvorsorge und Eigenverantwortung hat bis jetzt nur die Konsumenten und Wahlbürger verunsichert, die Pferde jedoch nicht zum Saufen gebracht. Es ist schon wahr, der kontinentaleuropäische und damit auch der deutsche Konservativismus ist kein bürgerlich-freiheitlicher, sondern ein aristokratisch-etatistischer. Nicht der ins Unbekannte vorstoßende landhungrige Kolonist hat das Land aufgebaut, sondern die französischen Könige und ihre habsburgischen und preußischen Vettern haben es nach den Verwüstungen der Religionskriege wiedererrichtet – der heute noch virulente Merkantilismus der Chirac und Sarkozy hat hier seine Wurzeln.

In Preußen wie in Hessen haben die Fürsten das Land mit Glaubensflüchtlingen „peupliert“ und der große Friedrich hat das Oderbruch trocken gelegt. Wenn heute die Selbstverantwortung des Einzelnen eingeklagt und die Staatsgläubigkeit der kollektivistisch sozialisierten Untertanen beklagt wird, übersieht man, dass auch diese Verformung staatlicher Fürsorge zu Zwang nur das letzte Glied in der Kette einer jahrhundertealten Tradition war, die mit Maria Theresias Sittenpolizei nicht begonnen und mit Bismarcks Sozialpolitik nicht geendet hat.

Europa ist von seinen Fürsten gebaut, Amerika von seinen Bürgern besiedelt worden. Dass dabei zwischen Paris und Moskau mehr Schlösser, Theater, Galerien und Parks entstanden sind als im Rest der Welt, mit der Ausnahme vielleicht von Hindustan und einem Teil Chinas, ist die andere Seite einer Medaille, die heute manche für einen Mentalitätswechsel eintauschen möchten. In einer Welt ökonomischer Kosten-Nutzen-Analysen ist Europa der Kontinent der ganz unökonomischen, aristokratischen, kulturellen Differenz, was auch seinen Konservativismus geprägt und ihm ein sorgendes staatliches Gesicht gegeben hat. Das mag manchem heute überholt und provinziell erscheinen, es schließt offensichtlich soziale Revolutionen à la Thatcher aus.

So erweist sich die CDU am Ende auch in den Reformen als „Schutzmacht der Langsamkeit“, als Freund des behaglich Behäbigen, wie es der Spiegel formuliert hat. Der Wahlsieg von Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen hat das linke Herz der CDU wieder gekräftigt und dem Wahlprogramm offenbar manche Giftzähne gezogen. Sollte die ostdeutsche Protestantin nun doch pfleglicher mit dem Erbe von Bismarck, Adenauer und Blüm umgehen, als manche gehofft haben? Zu wünschen wäre es – im Interesse der Volkspartei CDU.

Die Medizin des Kostensenkens und der Eigenvorsorge hat bis jetzt nur die Wahlbürger verunsichert

Unbeantwortet bleiben allerdings nach wie vor die Fragen nach Staat und Nation, also nach dem Bürgerlichen, das die Union von den Sozialdemokraten trennt. Geringere soziale Einschnitte und ein Gespür für das untere Drittel der Gesellschaft sagen noch nichts darüber, was in der Zukunft die deutsche Gesellschaft zusammenhalten soll.

Da der Wohlfahrtspatriotismus Adenauer’scher Prägung es nicht mehr alleine richten kann, wird die Union jene Debatte nachholen müssen, die sie bei vielen Gelegenheiten angekündigt, aber nie geführt hat – anlässlich der Aufregung um die „Leitkultur“ von Friedrich Merz wie des Hinauswurfs von Martin Hohmann. Schließlich lebt der Mensch nicht vom Brot allein – Konservative übrigens noch weniger als andere Menschen.

ALEXANDER GAULAND