Buch über den Genozid an den Armeniern: Auf der Flucht vor dem Völkermord

Arshaluys Mardigian gelang als Haussklavin die Flucht vor den völkisch-nationalistischen Türken. Ihr Zeitzeugenbericht war ein großer Erfolg.

schwarz-weiß Fotografie von Armenier*innen auf der Flucht

Undatierte Fotografie von deportierten Armenier*innen Foto: Armenian National Institute/reuters

Vieles an dem Augenzeugenbericht von Arshaluys Mardigian liest sich frappierend aktuell. Die Qualen der Flucht, die Vergewaltigungen der Frauen. Erniedrigung und Folter in Gefangenenlagern, dazwischen immer wieder Berichte von Massakern.

Der Augenzeugenbericht könnte aus den Kriegsjahren des auseinandergefallenen Jugoslawiens oder aus Afrika von Flüchtlingen, die sich nach Libyen durchschlagen, handeln. Doch er ist bereits mehr als hundert Jahre alt und beschreibt den Völkermord an der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich 1915 aus dem Erleben eines jungen Mädchens auf der Flucht.

Viele Passagen sind beim Lesen nur schwer erträglich. Besonders wenn die Autorin schildert, wie ihre Familienangehörigen ermordet werden. Die Familie Mardigian lebte in Ostanatolien in einer Kleinstadt zwischen dem heutigen Tunceli und Elazığ, das damals Harput hieß und ein armenisches Zentrum war.

Arshaluys Mardigian: „… meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann. Ein Zeitzeugenbericht vom Völkermord an den Armeniern 1915/16“. zu Klampen Verlag, Springe 2020, 220 Seiten, 24 Euro

Ihr Vater war ein wohlhabender Bankier, sie und ihre Geschwister gingen auf Missionsschulen und genossen eine europäische Bildung. Gemessen am Analphabetentum der kurdischen Nomaden und türkischen Bauern in der Gegend um sie herum, gehörten sie zu einer Elite. Aber als ethnische und religiöse Minderheit eben auch zu einer gefährdeten Elite, wie vorangegangene Massaker an Armeniern am Ende des 19. Jahrhunderts zeigten.

Als eine der Wenigen gelang ihr die Flucht

Der Augenzeugenbericht selbst ist sehr eindringlich, geht auf die historischen Hintergründe aber kaum ein und lässt Leser, die die Geschichte des Völkermords an den osmanischen Armeniern nicht kennen, sicher häufig ratlos zurück. Dieser Mangel, der einem Erlebnisbericht aber inhärent ist, wird etwas aufgefangen durch ein Nachwort der Wissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin Tessa Hofmann, die die damaligen Ereignisse detailliert beschreibt.

schwarz-weiß Porträt der Armenierin Arshaluys Mardigian

Zeitzeugin Arshaluys Mardigian Foto: zu Klampen Verlag

Entstehen konnte der Zeitzeugenbericht von Mardigian nur, weil sie zu den Wenigen gehörte, denen damals die Flucht gelang. Sie konnte aus einem Harem eines reichen Türken fliehen, der sie als junges hübsches Mädchen aus den Flüchtlingskolonnen heraus gekauft hatte, um sie zu einer Art Haussklavin zu machen. Mithilfe eines armenischen Schäfers, der für den Großgrundbesitzer arbeitete, gelang ihr die Flucht.

Wochen- und monatelang versteckte sie sich in den unwegsamen Gegenden des Dersim-Gebirges und ließ sich immer wieder von den dort lebenden alevitischen Kurden als Gehilfin anheuern, um an Lebensmittel zu kommen. Weil sie von diesen aufständischen Kurden nicht verraten wurde, gelang es ihr schließlich, das von den Russen eroberte Erzerum zu erreichen und dort Kontakt zu amerikanischen Missionaren aufzunehmen.

Dass der Völkermord während des Ersten Weltkriegs stattfand, in dem etliche Armenier auf seiten der Russen kämpften, erfährt man nur sehr kursorisch. Auch dass das Deutsche Reich als Bündnispartner der Osmanen in den Völkermord tief verstrickt war, wird weder in dem Augenzeugenbericht noch in dem Nachwort von Tessa Hofmann thematisiert. Stattdessen beschäftigt sich Tessa Hofmann eingehender und aufschlussreich mit dem Schicksal der jungen Armenierin, nachdem sie in den USA angekommen war.

Sogar in Hollywood verfilmt

Ihr Augenzeugenbericht, der von einem amerikanischen Journalisten aufgeschrieben wurde, wurde ein großer Erfolg und schließlich sogar in Hollywood verfilmt. Der jungen Frau bekam der Rummel, der um sie entstand, schlecht. Als die ­Sensation vorbei war, wurde sie aussortiert und vergessen. Immerhin wurden aus den Einnahmen von Buch und Film auch größere Summen für armenische Hilfsorganisationen bereitgestellt, die sich um die Überlebenden des Völkermords kümmerten.

Wer das Buch heute vor dem Hintergrund des letzten Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien um das Berggebiet Karabach liest, versteht die Ängste der Armenier vor „den Türken“ besser, wie die Aserbaidschaner in Armenien durchgehend bezeichnet werden. Solange in der Türkei und Aserbaidschan der Völkermord von 1915 nicht anerkannt wird, wird sich daran auch nichts ändern.

Das Buch ist als Neuauflage der ursprünglichen englischen Fassung von 1918 im zu Klampen Verlag erschienen. Der Verlag hat sich bereits 2005 mit der Herausgabe der von Wolfgang Gust edierten Dokumente des Auswärtigen Amts zum Völkermord 1915 große Verdienste um die Sache erworben.

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