Flüchtlingspolitik in Niedersachsen: Schulden bis zur Rente

Der Flüchtlingsrat kritisiert weitreichende Abtretungserklärungen. Mit denen sichern sich Städte die überhöhten Gebühren für die Unterkünfte.

Graue Wohncontainer stehen in Hannover am Waterlooplatz

Für diese Unterbringung kann auch die Rente oder das Kindergeld gepfändet werden Foto: Holger Hollemann/dpa

HANNOVER taz | 930 Euro für einen Schlafplatz im Doppelzimmer – erst in der vergangenen Woche standen die horrenden Gebühren für manche Flüchtlingsunterkünfte wieder in der Kritik. Der Satz der Gemeinde Hemmingen ist ein Extrembeispiel, aber bei weitem nicht das einzige.

Weil die Kommunen versuchen, die Kosten für die eilig aus dem Boden gestampften Unterkünfte schnell wieder reinzuholen, ist das Wohnen dort um ein Vielfaches teurer als jede ortsübliche Vergleichsmiete. Das geht, weil es rechtlich eben um Nutzungsgebühren geht – und nicht um Mietzahlungen.

Bei den Recherchen zum Thema ist der Flüchtlingsrat Niedersachsen allerdings noch über einen anderen Aspekt gestolpert: Offenbar versuchen manche Kommunen – genannt werden Hannover und Nordhorn – auch noch, Geflüchtete dazu zu bringen, dass sie Abtretungserklärungen unterschreiben, die ungewöhnlich weitreichend sind.

„Mit diesen Abtretungserklärungen lassen sich die Kommunen 'alle bestehenden und künftigen Einkommensansprüche’ der Bewohnenden – beispielsweise gegenüber Arbeitgeber, der Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter, der Krankenkasse oder der Rentenversicherung – übertragen, um – vermeintliche – Gebührenschulden für die Unterbringung 'unter Ausschaltung der Pfändungsfreigrenze’ direkt von den benannten Stellen einfordern zu können“, schreibt der Flüchtlingsrat.

Pfändungsgrenzen gelten hier nicht

Und dies offenbar selbst wenn der Gebührenbescheid angefochten wurde und noch gar nicht gerichtlich geklärt wurde, ob er gültig ist. Die Stadt Hannover lässt sich jedenfalls in dieser Abtretungserklärung sogar die Forderungen „dem Grunde und der Höhe nach“ anerkennen.

Die Kommunen berufen sich dabei auf eine Rechtssprechung, die besagt, dass die Pfändungsgrenzen dann nicht gelten, wenn es um Ansprüche geht, die aus einer unmittelbaren wirtschaftlich gleichwertigen Gegenleistung resultieren – also zum Beispiel der Zurverfügungstellung von Wohnraum zur Vermeidung von Obdachlosigkeit.

Die Stadt Nordhorn hat ihre Abtretungserklärung außerdem um einen Passus ergänzt, in dem steht, dass alles, was in dem Zimmer gefunden wird, als Müll auf Kosten des Betroffenen entsorgt werden darf.

Wörtlich steht da: „dass alle Gegenstände, die nach meinem Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft / nachdem ich die Gemeinschaftsunterkunft aus welchem Grund auch immer verlassen habe, noch in der Unterkunft vorhanden sind, Abfall darstellen, der auf meine Kosten entsorgt werden kann“. Der Flüchtlingsrat bezeichnet das als „kalte Enteignung“.

Zurückgelassenes wird als Müll entsorgt – und berechnet

Die Stadt Nordhorn verteidigt sich damit, dass diese Abtretungserklärungen ganz selten Anwendung fänden. Und vor allem der Passus mit dem Müll gehe auf die Erfahrung zurück, dass viele Bewohner von Obdachlosen- oder Flüchtlingsunterkünften einfach verschwänden und die Zimmer zugemüllt hinterließen.

Das vorgeschriebene Prozedere – Anschriftenermittlung, Aufforderung zur Räumung, Anhörung mit Fristsetzung und schließlich Ersatzvornahme – sei aber derart umständlich und langwierig, dass die Zimmer dann oft anderthalb bis drei Monate leer ständen, obwohl sie doch dringend gebraucht würden, erklärt ein Sprecher der Stadt auf taz-Anfrage.

Im Übrigen sei eine zügigere Abwicklung doch auch im Sinne der Betroffenen – schließlich liefen ja sonst in diesen Monaten weitere Gebührenforderungen auf.

Der Flüchtlingsrat rät trotzdem dringend davon ab, solche Abtretungserklärungen zu unterschreiben. Er hält sie in dieser Form für rechtswidrig, zumal sie auch häufig ohne ausreichende Erläuterungen und Übersetzungen überreicht worden seien.

Aus Hannover gebe es sogar Berichte von Sozialarbeitern aus verschiedenen Einrichtungen, die aufgefordert worden seien, solche Erklärungen einzuholen – ohne dass ihnen selbst klar gewesen sei, wie weitreichend die sind, erzählt Muzaffer Öztürk­yilmaz vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Stadt Hannover will das alles nicht so gemeint haben

Die Stadt Hannover sagt allerdings, es könne sich nur um wenige Einzelfälle handeln. Die Abtretungserklärungen würden äußerst selten eingesetzt und wenn, dann nur um die aktuellen Leistungen zum Beispiel vom Jobcenter direkt einzukassieren und andere Vollstreckungsmaßnahmen wie Gehaltspfändungen oder Ähnliches gerade zu vermeiden. Man biete dem Flüchtlingsrat im Übrigen gern Gespräche dazu an.

Warum die Abtretungserklärung dann trotzdem so weitreichend formuliert ist und weit über das hinausgeht, was sonst zwischen Jobcentern und Vermietern üblich ist, ließ sich kurzfristig nicht klären.

Die migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, Susanne Menge, hat nun Innenminister Boris Pistorius (SPD) aufgefordert, sich des Themas anzunehmen und seine Fachaufsicht auszuüben – und zwar sowohl was die hohen Gebührensätze angeht, die je nach Kommune extrem unterschiedlich ausfallen, als auch die kritisierten Abtretungserklärungen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.