Moderne Mythen in der modernen Arbeitswelt

PREKÄR Die Ausstellung „brenne und sei dankbar“ zeigt die Wahrheit hinter der jungen, coolen, unabhängigen kreativen Klasse

Die besten Plakate sind die plakativsten: zum Beispiel jenes, das eine Theaterbühne mit Blick auf den leeren Zuschauerraum zeigt. Mit einem schwarzen Edding hat jemand eine Zahl auf das Bild geschrieben: 427,50.

Es handelt sich um die durchschnittliche Rentenerwartung aller freien Tanz- und Theaterschaffenden nach 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren. Darunter steht noch etwas in kleiner Schrift von der „fehlenden Kenntnis über die Rentenansprüche“ dieser Freien und dass sich „die meisten über das fehlende Risiko der Altersarmut nicht im Klaren“ seien – aber da ist alles schon gar nicht mehr so wichtig. 427,50 Euro. Das reicht in Berlin nicht mal mehr für die Miete.

Es sind schockierende Erkenntnisse, die die Wanderausstellung „brenne und sei dankbar“ mit nur zwölf Postern auslöst, die derzeit in der Akademie der Künste zu sehen sind und auf Initiative der Münchner Schauspielerin und Regisseurin Gesche Piening vom Grafiker Ralph Drechsel entworfen wurden. Selbst wer die Studie, auf der sie aufbaut – Günter Jeschonneks „Report Darstellende Künste“ aus dem Jahr 2010 – schon einmal in den Händen hatte, wird erstaunt sein. Denn was dieser auf über 700 Seiten in einer Fülle von Zahlen und Statistiken belegt, ist auf den Postern anschaulich heruntergebrochen.

Es steht schlecht ums kreative Prekariat, und zwar in Zeiten immer kleiner werdender Kulturtöpfe zunehmend schlechter. Und es ist höchste Zeit, dass sich Organisationen wie die Berliner Koalition Freie Szene bilden, die darauf aufmerksam machen und Forderungen stellen.

Galt Berlin in den letzten Jahren vor allem als „arm, aber sexy“, redet uns nun der neue Mythos von der kreativen Klasse ein, jeder müsse einfach nur jung, cool und unabhängig sein, allzeit flexibel, innovativ, selbst verantwortlich und risikobereit, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Die Anstrengung, die dieses Leben kostet, der Stress und die Unsicherheit, werden dabei nonchalant unter den Teppich gekehrt.

Dies bildet sich in einem Plakat der Ausstellung „brenne und sei dankbar“ ab, das einfach nur ein paar Balken zeigt. Es geht um den Anteil Tanz- und Theaterschaffender, der verheiratet ist und Kinder hat. Der Balken für sie ist fast nur halb so groß wie jener, der den Bevölkerungsdurchschnitt darstellt. In Zahlen heißt das: Frauen verdienen ein Drittel weniger als Männer, nämlich 9.430 Euro, während sich Männer mit 14.124 jährlich abspeisen lassen. Damit liegen sie 40 Prozent unter dem aller Arbeitnehmer einschließlich geringfügig Beschäftigter.

24 Prozent der Tanz- und Theaterschaffenden ist verheiratet, im Bevölkerungsdurchschnitt sind es 43 Prozent. 68 Prozent der Tanz- und Theaterschaffenden haben keine Kinder, im Bevölkerungsdurchschnitt sind es 35. Die Freien geben als Grund für ihre Kinderlosigkeit finanzielle Aspekte und fehlende Planungsssicherheit an. Die Arbeitsbedingungen in der sogenannten Kreativwirtschaft sind nichts für Leute, die Familie wollen, kleine Kinder haben, krank sind oder Angehörige pflegen.

Die kreative Szene unserer sogenannten Kulturnation ist so berühmt, das sich jeder gern mit ihr schmückt. Was aber gibt die Politik für sie aus, die sich so gern auf den roten Teppichen tummelt? Deutschland spendiert pro Kopf im Jahr etwa 100 Euro für Kultur und liegt europaweit damit nur an 14. Stelle. Vorher kommen Liechtenstein (580 Euro), Norwegen (438), Dänemark (352), Österreich (260), Schweden, Frankreich, Estland, Finnland, Spanien und Slowenien.

Diese Zahlen zeigt das letzte Plakat, das an dieser Stelle beschrieben werden soll. Die Zahlen werden auf einem einfachen Schmierzettel präsentiert. Das wirkt lapidar. Es ist darum umso ernüchternder. SUSANNE MESSMER

■ Bis 30. September in der Akademie der Künste