Wir müssen draußen bleiben

Zur Berlin-Wahl am 26. September treten viele kleine Parteien aus dem linken, liberalen und ökologischen Spektrum an. Die taz stellt die wichtigsten vor

Inzwischen europaweit auf den Straßen zu sehen: Die Fahnen von Volt, hier am Brandenburger Tor Foto: Emmanuele Contini/imago

Liberale Steckdose

Volt sammelt Ideen und Problemlösungen aus ganz Europa. Ihr Programm ist eine Mischung aus Ökologie und Liberalismus. Mietendeckel und Enteignungen von Wohnungen lehnt die Partei ab

Die Devise von Volt lautet: Sachpolitik statt Ideologie, Lösungsorientierung statt politischer Grabenkämpfe

Von Timm Kühn

Jung und progressiv will Volt sein: Eine Kleinpartei, die sich mit der Flagge der Europäischen Union schmückt und die sich nach einer Maßeinheit für elektrische Spannung benannt hat. „Es geht darum, neue Energie in die Politik zu bringen“, sagt ihre Berliner Spitzenkandidatin Carolin Behr. Das Ziel der 31-jährigen Ärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ihren Job aktuell für die Politik ausgesetzt hat: Die Fünfprozenthürde knacken und ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen. Dort will sie „Ideen aus ganz Europa“ einbringen und so die Politik zum lösungsorientierten Handeln anregen.

Gegründet wurde Volt 2016 als Gegenentwurf zum erstarkenden Nationalismus und Rechtspopulismus. Brexit und Trump hätten sie politisiert, erzählt auch Behr. „Ich wollte unbedingt etwas machen“, sagt sie, am Telefon klingt ihre Stimme immer noch schockiert. Da wäre ihr eine Bewegung, die in ganz Europa die gleichen Probleme sehe und versuche, diese gemeinschaftlich zu lösen, gerade richtig gekommen. Behr baute das Hamburger und Berliner Volt-Team auf.

Volt ist in 30 Ländern Europas aktiv. „Zuerst wird bei uns das europäische Programm geschrieben, daraus leiten sich dann die nationalen und lokalen Programme ab“, berichtet Behr. 2019 errang die Partei einen Sitz im Europäischen Parlament; seit Anfang dieses Jahres ist sie auch im niederländischen vertreten. Der größte Erfolg in Deutschland: fast sieben Prozent und fünf Sitze bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung in Darmstadt.

Doch wofür Volt politisch steht, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Die Partei selbst lehnt eine Einordnung im klassischen Links-rechts-Schema ab. „Unser Motto ist Komplexität statt einfache Lösungen“, sagt Behr dazu. Dies sei auch ihr Gegenentwurf zum Rechtspopulismus. Statt die Ängste der Menschen anzuspielen, wolle Volt „konstruktive und langfristige Politikvorschläge einbringen“, sagt sie.

Zentral für die Partei ist der Glaube an sogenannte Best Practices, eine aus der Wirtschaftswissenschaft entstammende Bezeichnung für erprobte und deshalb angeblich objektiv beste Lösungen. Volt spreche mit Ex­per­t:in­nen über Probleme und darüber, wo es diese bereits gegeben hat und wie sie dort gelöst wurden, sagt Behr: „Nachdem wir uns den Input geholt haben, diskutieren wir darüber und entscheiden auf Basis unserer Werte.“ Diese seien Menschenwürde, Gerechtigkeit, Freiheit, Nachhaltigkeit, Solidarität und Chancengleichheit.

Die Devise lautet also: Sachpolitik statt Ideologie, Lösungsorientierung statt politischer Grabenkämpfe. Doch natürlich hat Volt die Wissenschaft nicht exklusiv gepachtet. Den meisten Parteien stehen wissenschaftliche Einrichtungen nahe, wie die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen oder die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken. Neu an Volt ist weniger ihr Verweis auf die Wissenschaft, sondern die Aura des Apolitischen und des Unvoreingenommenen, mit der sich die Partei umgibt. „Mich nervt das Schwarz-Weiß-Denken“, sagt auch Behr.

Das aber ist eine Rhetorik, die gelegentlich auch andere Parteien anschlagen: „Die einen suchen den Klassenkampf, die anderen den Kulturkampf. Wir suchen Lösungen“, schreibt zum Beispiel die Berliner FDP auf ihrer Webseite – und formuliert so den neoliberalen Irrglauben an die angeblich unpolitischen Imperative des Marktes. Darauf angesprochen, betont Behr dennoch die Differenzen mit der FDP.

Sie verweist auf das Bundesprogramm, in dem Umverteilung gefordert würde, da „wenige Menschen zu viel Macht und Einfluss besitzen“. Tatsächlich fordert das Bundesprogramm einen Mindestlohn von 13 Euro (mehr als die SPD), die Abschaffung von Minijobs, mehr Sozialhilfe und eine moderate Erhöhung der Erbschaftssteuer – allerdings nur für Vermögen über 480.000 Euro. Ansonsten heißt es dort zum Beispiel, die Klimakrise sei unternehmerisch zu lösen; außerdem will die Partei die Unternehmenssteuersätze senken.

Auch das wichtigste Thema im Berliner Wahlprogramm, die Digitalisierung, ist ein liberales Kernthema. Durch Entschlackung und Digitalisierung der Bürokratie soll Berlin zum Beispiel attraktiver für europäische Start-ups werden. Volt will eine „Smart City Berlin“ schaffen, in der städtische Betriebe, Wirtschaft und Wissenschaft besser vernetzt sind. Auch eine digitalisierte Verwaltung würde „überall“ Vorteile schaffen, weil etwa Fördergelder schneller vergeben werden könnten. Um das umzusetzen, schlägt Volt die Einrichtung einer Senatsverwaltung für Digitalisierung vor.

Progressiv lesen sich die Forderungen zum Klimaschutz: Die Partei will mehr Fahrräder, sie unterstützt Kiezblocks, um Viertel autofrei zu machen, sie fordert den Ausbau des ÖPNV, mehr Parks und stadtweit Tempo 30. Die Initiative Stadt für Menschen zählte Volt deshalb kürzlich neben den Grünen und der Klimaliste zu den drei grünen Parteien des Wahlkampfs.

Behrs Herzensthema ist derweil die Bildungspolitik: Sie setzt sich für mehr Chancengerechtigkeit ein. Um die sozialen Herkunftsunterschiede auszugleichen, müssten Familien viel breiter unterstützt werden. „In Finnland gilt das Motto: ‚Ein ganzes Dorf erzieht ein Kind‘“, sagt Behr und verweist auf ein weiteres Best-Practice-Beispiel. „Da sollten wir auch hin.“

Überraschen dürfte progressiv gesinnte Wäh­le­r:in­nen dagegen die Position von Volt beim zentralen Thema Wohnen: Sowohl der Mietendeckel als auch die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne werden abgelehnt. Damit stellt sich die Partei gegen die beiden wichtigsten Anliegen linker Politik in diesem Wahlkampf.

Zwar teile Volt „die Ziele nach mehr dauerhaft günstigem Wohnraum“, sagt Behr. Dann aber wiederholt sie die bekannten Argumente der Immobilienlobby: Enteignung sei rechtlich zu unsicher und würde dem Stadt wegen der hohen Entschädigungskosten zu teuer kommen. „Durch Vergesellschaftung entsteht keine neue Wohnung“, sagt sie. Der Mietendeckel würde das Angebot an Mietwohnungen verknappen. Stattdessen will die Partei eine verschärfte Mietpreisbremse, mehr sozialen Wohnungsbau und dessen permanente Preisbindung, mehr Wohngeld, ein Immobilienregister und mehr Neubau und Nachverdichtung.

Behr betont, all diese Urteile seien nicht ideologisch, sondern würden rein auf Gesprächen mit Ex­per­t:in­nen beruhen. Das aber ist fragwürdig, weil es eine ganze Reihe Ex­per­t:in­nen gibt, die Vergesellschaftung super und den Mietendeckel notwendig finden. Letztlich kommt es eben darauf an, wen man fragt. Kein Wunder: Die Methoden der Sozialwissenschaften mögen meistens objektiv sein; die von ihr verfolgten Ziele dagegen sind häufig durch und durch politisch. Vielleicht ist das Problem mit den Best Practices von Volt ja, dass sie die Frage ausklammern, für wen etwas am besten ist.

Was darf Satire?

Die Partei, die auch so heißt, schwankt zwischen Klamauk und Kritik. Dass sie aber politische Verantwortung übernimmt, ist unwahrscheinlich

Ob Die Partei auch die Monarchie wieder einführen und sich damit abschaffen würde? Foto: Stefan Zeitz/imago

Von Adrian Breitling

Auf ihren Wahlplakaten tragen sie hellgraue Anzüge, rote Krawatten dazu – die Partei, die genau so heißt, gibt sich im Behördenlook. Natürlich absichtlich nicht schön, schließlich geht genau darum, den Anzugträgern in der Politik den Spiegel vorzuhalten. Zwischen Klamauk und Kritik liegt die Satire, sagt ihre Berliner Co-Vorsitzende Marie Geissler. Ein Drahtseilakt sei das, bei dem die einen mehr in die eine, die anderen mehr in die andere Richtung balancierten.

In Berlin könnte das Pendel nach dem 26. September eher in Richtung Kritik ausschlagen. Zumindest, wenn es nach der Partei selbst geht. Die sieht sich schon so gut wie im Abgeordnetenhaus, derzeit liege man bei etwa fünf Prozent, so die Selbstaussage. Das könnte für sieben Sitze reichen. Umfragen, die die diese Aussichten belegen würden, gibt es allerdings keine einzige. Und wie bei manch anderer Partei gilt erst recht für diese: Man darf keine ihrer Aussagen für bare Münze nehmen. Bei der Berlin-Wahl 2016 holte die Partei als stärkste Kleinstpartei nach der FDP gut zwei Prozent.

Dessen ungeachtet sagt Marie Geissler: „Dass wir überhaupt so gut dastehen, sollte ein Alarmsignal an die anderen Parteien sein.“ Seit 2016 ist Geissler Parteimitglied. Für das Abgeordnetenhaus kandidiert sie auf Listenplatz sieben, direkt hinter Bundeschef Martin Sonneborn. Er gründete Die Partei 2004, zunächst als Projekt des Satiremagazins Titanic. Später machten er und Nico Semsrott als Abgeordnete im Europaparlament auf sich aufmerksam.

Die Berliner Wäh­le­r:in­nen wollen sie nun auf recht destruktive Weise für sich überzeugen: „Wir finden die anderen genauso scheiße wie ihr. Das ist dann auch der Auftrag, mit dem wir ins Abgeordnetenhaus gehen würden“, sagt Geissler.

An der Spitze der Ber­li­ne­r:in­nen steht eine Essenerin. Annie Tarrach holte in ihrer Heimatstadt 2020 aus dem Stand knapp zweieinhalb Prozent, auch dort als Spitzenkandidatin. Danach kam sie nach Berlin, zunächst nur zu Besuch. „Aber wir haben sie nicht mehr gehen lassen“, erzählt Geissler.

Annie Tarrach arbeitet normalerweise als therapeutische Erziehungsassistentin. Sie hilft Kindern, die nicht mehr bei ihren Eltern leben und teilweise Gewalt erfahren haben. „Wir arbeiten auch deshalb so hart, damit Annie sich irgendwann einmal ein Haus in der Karibik leisten kann. Das hat sie sich verdient“, sagt Geissler über ihre Spitzenkandidatin. Um politische Arbeit im herkömmlichen Sinn geht es weniger.

Stattdessen wirbt Die Partei für „mehr Wahrheiten“, zum Beispiel am kommenden Sonntagnachmittag auf dem Potsdamer Platz. Welche das sind, ist in der Ankündigung nicht genauer formuliert. Aber es dürfte darum gehen, den Wahlkampf etablierter Parteien aufs Korn zu nehmen. Schließlich fordert Die Partei den wechselnden Auf- und Abbau des Berliner Schlosses und des Palastes der Republik. „Das würde den Charakter des Ortes als Dauergroßbaustelle erhalten“, heißt es auf ihrer Webseite.

Inzwischen hat sie auch ein paar Berliner Inhalte drauf, wenn man von Inhalten sprechen kann. Etwa Anna Katz: Sie steht auf Listenplatz drei und ist Synchronsprecherin. Diese Expertise wolle sie laut Geissler dafür nutzen, die Reden von SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey Eins-zu-eins nachzusprechen. Konkret macht sich die Partei also über Giffeys Stimme lustig. Weil das witziger sei, als sich über ernsthafte Themen aufzuregen.

„Wir finden die anderen genauso scheiße wie ihr. Das ist der Auftrag, mit dem wir ins Parlament gehen würden“

Marie Geissler, Die Partei

Der Drahtseilakt zwischen Klamauk und Kritik bleibt also wackelig. Und es stellt sich die Frage, wie diese Partei eigentlich arbeitet – nämlich sicher nicht so, wie die anderen. Das politische Geschehen verfolgen viele Mitglieder genau. Daraus leiten sie allerdings als Kleinst- und in seltenen Fällen Oppositionspartei kaum konkrete Anträge ab, sondern entwickeln aus kreativen Launen heraus Sprüche, Forderungen und Aktionen. Dafür gibt es allein in den zwölf Berliner Ortsvereinen in der Regel zwei Stammtische im Monat.

Die Partei schreibt sich selbst ein elitär, bourgeois und amoralisches Dasein zu. „Wer wirklich von Diskriminierung betroffen ist, hat einfach Besseres zu tun, als sich mit Politik zu beschäftigen“, erklärt Landesvorständin Geissler. Dass ihre Partei vor allem aus „Whities“ besteht und wenig divers ist, wundert sie demnach nicht.

Und es ist ihr auch egal: Auf Vorwürfe, eine Spaßpartei und zynisch zu sein, selbstgefällig und privilegiert, haben sie bei der Partei eine Antwort. Meistens zustimmend. Besonders der Zynismus, also der endgültige Abschied von Verbesserungswillen und Idealismus, ist tief in der Partei verwurzelt. Alles kann witzig sein.

„Wer immer wieder von den anderen Parteien enttäuscht wurde und zynisch geworden ist, wählt entweder gar nicht oder uns“, sagt Geissler. Damit verhindere man wenigstens weitere Sitze der AfD, was ja fast schon ein ernsthaftes politisches Ziel wäre. Das darf man allerdings nicht mit Verantwortung verwechseln, die Die Partei sicher nicht übernehmen wird.

Den Klimaschutz ganz oben auf der Liste

Als radikale ökologische Konkurrenz zu den Grünen präsentiert sich die Klimaliste. Auch sozial hat sie ein linkes Profil. Aber warum wagen die Mitglieder den Sprung aus der Bewegung in die parlamentarische Politik?

Das einzige Auto, das die Klimaliste gut findet. Wenn es noch aus Holz wäre Foto: Annette Riedl/dpa

Von Erik Peter

Hey, gehst du wählen?“ Antonio Rohrßen, ein 28-Jähriger mit gewinnendem Lächeln und türkisen Flyern der Klimaliste in der Hand, macht ein, zwei Schritte auf einen etwa Gleichaltrigen zu, der gerade das Tempelhofer Feld verlässt. Auf dessen schmallippiges „Ja“ legt Rohrßen nach; fragt, ob jener die Klimaliste kenne. Die Plakate habe er wahrgenommen, sagt der potenzielle Wähler, und fügt kritisch hinzu: „Klingt aber so, als seid ihr im Programm sehr eingeschränkt.“

Doch das ist nicht nur ein Vorwurf, sondern auch ein Gesprächsangebot, das Rohrßen sofort aufgreift. „Klimaneutralität berührt alle Bereiche des Lebens.“ Er fragt: „Wo arbeitest du?“ – „In der IT“ – „Siehst du, die Rechenzentren verbrauchen viel Energie.“ Der Wahlkämpfer macht weiter, fragt nach dem Arbeitsweg und freut sich über die klimaschonende Antwort „Homeoffice“.

Nun ist das Eis endgültig gebrochen. Er wisse nicht, wen er wählen könne, nicht die Alten, nicht die Etablierten, höchsten die Linke, sagt der Passant. Und Rohrßen freut sich: „Wir bieten die linke Perspektive auf Gerechtigkeit und die ökologische auf den Klimawandel.“ Er erzählt vom Klimaplan seiner Partei, der zusammen mit 100 Ex­per­t*in­nen erarbeitet wurde und Berlin bis 2030 klimaneutral machen soll; von der Idee, die Arbeitszeit der Ber­li­ne­r*in­nen durch 52 Feiertage auf eine Viertagewoche zu reduzieren.

Der Angesprochene nickt immer eifriger, nur zu einem Parteitreffen will er sich nicht einladen lassen. Aber überlegen, die Klimaliste zu wählen – das werde er.

Überhaupt läuft es an diesem Septembernachmittag gut für die Handvoll Parteiwerber*innen, die am Feld-Eingang Herrfurthstraße mit einem ebenfalls in den Parteifarben gehaltenen Fahrradanhänger, der als Unterlage für ihre Materialien dient, Aufstellung genommen haben. Die Sonne strahlt, Menschen schlendern mit Eis oder Bier vorbei, teilweise staut es sich regelrecht. Viele greifen zu bei den Flyern, teilweise lassen sich gleichzeitig drei Menschen in Gespräche verwickeln. Die Klimaliste, die erstmals für das Abgeordnetenhaus und in acht Bezirken antritt, stößt auf Interesse.

Viel hat das auch mit dem Plakaten zu tun. An den Laternen fällt die junge Partei auf, die sich vor einem Jahr aus den Resten der Volksinitiative Klimanotstand Berlin gründete. Freche Sprüche, inhaltlich pointiert, chic gestaltet. Die Botschaft dahinter: Hier sind junge Leute, die etwas anders machen wollen. „Immer wieder kriegen wir Fragen, welche Agentur dahintersteckt“, erzählt Alicia Sophia Hinon, Nummer eins der Landesliste; doch alles käme von der Parteibasis. 120 Mitglieder gebe es derzeit in Berlin, dazu viele Freiwillige aus der Klimagerechtigkeitsbewegung. Beim gemeinsamen Plakatieren seien 350 Menschen beteiligt gewesen.

Die Hälfte der Parteimitglieder bewirbt sich derzeit um Mandate, auch Rohrßen, der auf dem zweiten Listenplatz für das Abgeordnetenhaus kandidiert. Im Gespräch wird klar, dass ihnen dabei auch eine Rollenverteilung vorschwebt. „Ich wäre der aktivistische Part im Parlament“, sagt Rohrßen, der 2019 mit Extinction Rebellion den Großen Stern besetzte und dort auch die Nacht über schlief. Alicia Sophia Hinon, ausgestattet mit einer markant tiefen Stimme, sieht sich vor allem als Macherin: Anderes Wirtschaften, Social Entrepreneurship ist ihr Bereich.

Bevor sich die beiden aber die Aufgaben im Parlament zuschieben können, muss eine nicht unerhebliche Hürde genommen werden: Fünf Prozent, was 80.000 bis 100.000 Zweitstimmen entspricht. Kein Umfrage­institut sieht die Klimaliste bislang auch nur bei drei Prozent. Warum also dieser Sprung aus der Bewegung auf die politische Bühne?

Rohrßen sagt, die Klimabewegung müsse „kreativ eskalieren“, der Antritt passe in diese Strategie. Er gibt aber auch zu: Nicht alle in der Bewegung sehen ihre Perspektive in parlamentarischer Politik.

„Die Klimabewegung muss kreativ eskalieren“

Antonio Rohrßen, Klimaliste

Hinon glaubt fest an einen Einzug, 30 Prozent wüssten noch nicht, wen sie wählen wollen: „Es ist alles offen.“ Die Piraten seien vor zehn Jahren auch erstmals zwei Wochen vor der Wahl bei den Umfrageinstituten aufgetaucht. Nach der jüngsten Civey-Umfrage zur Abgeordnetenhauswahl mit zwölf Prozent für andere Parteien legte die Klimaliste mit einer eigenen Umfrage nach. Ergebnis bei 1.250 repräsentativ ausgewählten Teilnehmer*innen: 10,8 Prozent könnten sich „in jedem Fall“ vorstellen, die Partei zu wählen; weitere 11,6 Prozent beantworteten die Frage mit „eher ja“.

Trotz ihrer Überzeugung beklagt Hinon die „fehlerhafte, ungenügende Sichtbarkeit von jungen Interessen“; eine „Konsolidierung der Partei findet medial nicht statt“. Ihren Wahlwerbespot strahlte der RBB zwei Mal aus, die Grünen hätten dagegen unzählige Sendeplätze bekommen. Überhaupt fallen die Grünen in dem Gespräch oft. Man „schieße nicht gegen die Grünen“, sagt Hinon; gleichzeitig aber gebe es eine große Kritik am grünen Wachstumsmodell.

Die Klimaliste setzt dagegen auf Reduktion: weniger Arbeit, weniger Wege, weniger Flächenbedarf an Wohnraum pro Person, weniger Konsum. All das präsentieren sie gut gelaunt, vermeiden Begriffe wie Verbote, sprechen dagegen davon, dass Fakten auf den Tisch müssen, von Transparenz und wissenschaftsbasiertem Klimaschutz.

Rohrßen erzählt, wie er zuletzt Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert traf und ihm vorhielt, dass die Klimaziele der SPD bei Weitem nicht ausreichend seien. Klima sei eben noch nicht das primäre Thema, habe Kühnert darauf geantwortet. Rohrßen entgegnete ihm: „Willst du ein politischer Anführer sein oder nur hinterherlaufen?“