Gleise ins Nirgendwo

PAUKENSCHLAG In die Geschichte des Hinterlandes hineinhorchen: Hernán Ronsinos Kurzroman „Letzter Zug nach Buenos Aires“

VON TIMO BERGER

Eine Leiche liegt neben dem Bahndamm im Schilf. Kurz nach ihrer Entdeckung wird ein vermeintlicher Täter verhaftet. Dass er kein Motiv hat, stört in dem argentinischen Provinzkaff niemanden. Der schweigsame, unbeholfene Vardemann, der im Friseursalon seines Vaters drei, vier Kunden am Tag die Haare stutzt, galt vorher schon als Sonderling. Wäre „Letzter Zug nach Buenos Aires“ ein Krimi, setzte die Erzählung an dieser Stelle ein. Doch Hernán Ronsino montiert seinen Kurzroman so, dass der Mord wie ein Paukenschlag am Ende steht. Davor lesen wir die inneren Monologe von vier Figuren an vier verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte: Oktober 1973, Dezember 1984, Juli 1966 und Dezember 1959. Der Ort der Handlung ist – von einer kurzen Eskapade in die argentinische Hauptstadt abgesehen – jedoch immer der gleiche: ein Arbeiterviertel im Schatten der Ölfabrik einer Kleinstadt der Provinz Buenos Aires.

Aus den bruchstückhaften Erzählungen der vier Figuren entspinnt sich ein kühl inszeniertes Kammerspiel über Liebe, Macht und Verrat, das ganz anders klingt als all das, was zuletzt aus Argentinien zu lesen war. Der 1975 in Chivilcoy geborene Hernán Ronsino gilt auch in seiner Heimat als Solitär. Ihn interessiert weniger die schillernde Gegenwart der boomenden Metropole Buenos Aires als ein behutsames – die Impulse des Noveau Roman wiederaufnehmendes – sezierendes Hineinhorchen in die Geschichten des Hinterlandes. Auch sind seine Protagonisten oft Menschen, die sonst in der Literatur selten auftauchen: ein Friseurlehrling, ein Postangestellter, ein Fleischergeselle. Dazu stößt der Polizist Ramón Folcada und bildet wiederum die Brücke zu realen historischen Ereignissen, wie Ronsino durch ein vorangestelltes Zitat aus „Das Massaker von San Martín“ deutlich macht. In dem Tatsachenroman von 1957 rekonstruierte der argentinische Schriftsteller und Journalist Rodolfo Walsh ein von der Militärregierung 1956 angeordnetes geheimes Massaker an vorgeblichen Aufständischen.

Hernán Ronsino nimmt diese Spur der Gewalt auf: Ramón Folcada ist einer der Beteiligten der illegalen Exekution. Damit Gras über die Sache wachsen kann, wurde er in die Kleinstadt versetzt. In dem Viertel, in dem mit er seiner Frau, der Negra Miranda, nun wohnt, kennt jeder jeden und man steht unter ständiger Beobachtung der Nachbarn. Vor allem die Beine seiner Frau, „eine aus Buenos Aires“, ziehen die Blicke der jungen Männer auf sich. Bald soll einer von ihnen eine Affäre mit ihr eingehen, die jedoch nicht lange verborgen bleibt und etwas später, weil ein Freund einen Freund vorschickt, zu dem Mord an einem Dritten führen wird.

Ronsino gelingt es, mit einer sparsamen, präzisen Prosa das verhängnisvolle Beziehungsgeflecht zu skizzieren und die bedrohliche Atmosphäre einzufangen. In der beklemmenden Enge des Viertels verwundert es kaum, dass seine Bewohner fixe Ideen haben: Der eine glaubt, man könne an den Zehen das Schicksal der Menschen ablesen, der andere malt sich beständig den Tod seiner Nächsten aus, ein Dritter hält die Beine der Negra Miranda denen der Marilyn Monroe für ebenbürtig, ein Vierter träumt von Zügen.

Züge spielen überhaupt eine wichtige Rolle in dem Buch. Mit dem 10-Uhr-Zug kommen Ramón Folcada und seine Frau im Oktober 1958 in die Kleinstadt. In dem Zug nach Buenos Aires gehen die Negra Miranda und ihr künftiger Liebhaber zum ersten Mal auf Tuchfühlung. Mit demselben Zug flüchtet sie aus der Provinz und lässt ihren Mann allein zurück. Zwanzig Jahre später werden die Gleise des Bahnstrecke durchs Viertel demontiert, Schwellen und Schienen auf einen Laster verladen.

Einst stand die Eisenbahn für die Entwicklung Argentiniens und die Erschließung des weiten Hinterlandes. Entlang ihrer Strecken siedelten sich Menschen und Industrie an. Seit Ende der 1950er Jahre findet in dem südamerikanischen Land ein umgekehrter Prozess statt: Fabriken schließen, Bahnstrecken werden aufgegeben. Ronsino lässt die Notizen von der Deindustrialisierung des Landes wie beiläufig in seine Geschichte einfließen. Zurück bleiben am Ende des Romans ein trister Vorort und ein Kriminalfall, den der Leser zwar für sich gelöst hat, wobei er aber auch feststellen muss: Die Gespenster der Vergangenheit bleiben, der Täter kommt ungeschoren davon, der Verrat des Freundes bleibt unentschuldigt und die Eisenbahn wird zum Phantomschmerz eines abgehängten Hinterlandes.

Hernán Ronsino: „Letzer Zug nach Buenos Aires“. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Bilgerverlag, Zürich, 2012, 104 Seiten, 19 Euro