Wachstum jenseits aller Vermarktung

Citylization II: In Istanbul vollzog sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Erfolgsgeschichte. Die Stadt wuchs von 1 auf 15 Millionen Einwohner an – ohne Slums, ohne Gewaltausbrüche und ohne autoritären Staatsdirigismus. Die kaum gesteuerte Stadtentwicklung hat aber auch Schattenseiten

VON MICHAEL KASISKE

Byzantion, Augusta Antonina, Constantinopolis, Konstantiniye, Islamboli, Stimboli, Stambul, Istanbul – die Aufzählung seiner Namen rückt die wechselhafte Geschichte des seit beinahe 3.000 Jahren besiedelten Ortes an der Grenze zwischen Europa und Asien ins Bewusstsein. Doch in Istanbul halten sich wenige mit der Vergangenheit auf. Sowohl die unablässig in den urbanen Kosmos Drängenden als auch die Besuchenden reizt die größte türkische Stadt als Hort zahlreicher, wenn auch nur vereinzelt definierter Potenziale, wodurch Istanbul als Exponent weltweiter Stadtentwicklung in diesem Jahrzehnt angesehen wird.

Der europäisch geprägte, zentrale Stadtteil Beyoglu etwa wirkt wie auf Warteposition für Europa. Neue oder sanierte Gebäude wechseln mit halb eingestürzten, traditionellen Holzhäusern oder Trümmerbergen ab, und je weiter eine Anlage von der Geschäftsstraße Istiklâl Caddesi entfernt liegt, desto weniger wird für die Erhaltung aufgewendet.

Doch selbst auf dieser überwältigend dicht bevölkerten Fußgängermeile und am Taksim, wo die Stadtbusse ankommen und starten, liegen Aufmerksamkeit heischende neue Läden neben eingesessenen Schreibwarenläden oder verstaubten Pornokinos, übrig geblieben aus der Zeit, als das Quartier zu einer einzigen billigen Absteige heruntergekommen war.

Anders freilich als die berühmten Orte in Italien, die inzwischen in ihrer Musealität erstarrt sind, tobt auf Istiklâl Caddesi das Leben durchgehend Tag und Nacht. Eine solche kraftvolle Urbanität ist zu einem bevorzugten Gegenstand der Kunst erkoren worden.

Pina Bausch setzte in dem Tanzstück „Nefés“ die Lebensweise der Bevölkerung in Szene, Fatih Akin fing in „Crossing the Bridge“ das breite Spektrum der Musikszene ein, und im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe war gleich eine ganze Ausstellung der „Metapole“ gewidmet worden, prosaisch betitelt mit „Call me Istanbul ist mein Name“.

Hier stellten zeitgenössische Künstler Themen in den Mittelpunkt wie die Gecekondu, jenen kleinen Häusern, die von den vom Land kommenden Migranten sinngemäß „über Nacht gebaut“ werden. Wobei ihr typologischer Bezug zum dörflichen Haus relevant ist, nicht die Illegalität.

In Istanbul wird nur in Ausnahmen ein Gebäude so errichtet, wie es genehmigt wurde. Das zeigt anschaulich der Architekt Hüsnü Yegenoglu in seinem Beitrag zu „Self Service City: Istanbul“, das als viertes Buch der Reihe metroZones erschienen ist.

Wie vereinzelte Potenziale der Stadt stellen die Autoren individuelle Lebenssituationen vor, an deren Beispiel sich Teile des unübersehbaren Geflechts städtischer Politik und sozialräumlicher Entwicklung aufzeigen lassen.

Damit wird der Blick korrigiert, der in den letzten Jahrzehnten durch die Zerstörung historischer Substanz – etwa durch breite Straßenschneisen – sentimental verklärt war. Ein Vergleich mit der Haussmann’schen Planung in Paris des 19. Jahrhunderts liegt auf der Hand. Wurde hier durch die breiten Achsen ein rascher Einzug des Militärs in die Stadt gewährleistet, ging dort das politische Kalkül eines Individualverkehrs für alle allerdings nicht auf.

Wer zu weit aus dem Zentrum entfernt wohnt, verbringt morgens und abends nicht nur ein bis zwei Stunden im Bus, sondern muss einen großen Teil seines Lohns für die Fahrkosten aufwenden. Die Metro beschränkt sich bislang nur auf eine Strecke, deren wichtigster Teil, die Verbindung zwischen Taksim und der Altstadt, Eminönü, bislang fehlt. Dadurch sind die beiden Überquerungen des Goldenen Horns vollkommen überlastet und bringen die angrenzenden alten Quartiere zum Bröckeln.

Vielleicht muss aber der Maßstab nicht am Verlust gebauter Geschichte angesetzt werden. Istanbul ist von etwa einer Million Einwohner in den 1950er-Jahren auf gegenwärtig ungefähr 15 Millionen angewachsen. Stephan Lanz stellt in dem Beitrag „Wenn du es in Istanbul schaffst, schaffst du es überall“ fest: „Vielmehr ist die jahrzehntelang gelungene Integration einer derart gigantischen Zuwanderung ohne massenhaftes Elend in Slums und Shantytowns, ohne Gewaltausbrüche provozierende kulturelle und soziale Risse oder ohne einen autoritären Staatsdirigismus wie in den Städten Chinas weltweit ohne Beispiel.“ Und er resümiert folgerichtig: „Das heutige Istanbul ist aus dieser Perspektive eine Erfolgsgeschichte, die städtische Experten mit Befriedigung und Zuversicht erfüllen müsste, selbst wenn man die sozialen, politischen und umweltbedingten Kosten dieser extremen und kaum gesteuerten Stadtentwicklung in Rechnung stellt.“

Es nimmt deshalb nicht wunder, dass die Bewohner Istanbuls ihre Räume und Biografien offener und weniger definiert empfinden. Auch lässt sich aus dieser Sicht die Bereitschaft zum kreativen „Small Business“ erklären, jene kleinen Unternehmungen und Geschäfte mit meist sichtbar geringer Investitionskraft.

In „American Dream im Gecekondu“ beschreibt Timur Soykan am Beispiel des neu errichteten amerikanischen Generalkonsulats den Glauben der in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Bewohner an das „große Geld“.

Finanzielle Erwartungen prägen auch den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Zum einen werden die Grundstückspreise durch Spekulation voraussichtlich weiter emporschnellen, zum anderen gibt es Hoffnung auf rechtliche Sicherheit, deren schlechter Ruf bislang hemmend gerade auf ausländische Investitionen wirkte.

Unabhängig vom Ausgang des auf allen Seiten umstrittenen Schrittes, eine Gewissheit gibt es jedoch: Istanbul lässt sich nicht vermarkten wie etwa Los Angeles in den 1980er-Jahren, Barcelona im Vorfeld der Olympiade oder aktuell Neapel. Längst ist die Größe überschritten worden, wo ein Bild als Ziel des Werdens vorgegeben werden kann. Ähnlich wie New York, London oder Paris ist Istanbul nur eines: Istanbul.

Literatur: Conover, Roger/Cufer, Eda/Weibel, Peter (Hg.): „Call me Istanbul ist mein Name. Kunst und urbane Visionen einer Metapolis“. ZKM Karlsruhe, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2004, 24,80 €ĽEsen, Orhan/Lanz, Stephan (Hg.): Self Service City: Istanbul“. b_books, Berlin 2005, 16,80 €