bücher aus den charts
: Kleines Bestsellerwunder und großes Erzählwunder: János Székelys 800-Seiten-Roman „Verlockung“

Dass die Spiegel-Bestseller-Liste (und auch die von Focus) ein Quell ewiger Inspiration ist oder sich durch ein stetes „Bäumchen, wechsle dich“-Spielchen auszeichnet, lässt sich nicht guten Gewissens sagen: Auf Platz 1 Dan Brown, mal mit „Sakrileg“, mal mit „Diabolus“, oder Donna Leon mit ihrem soundsovielten Brunetti-Roman, dann Coelho, Mankell oder Lelord, das ist das immer gleiche Ranking. Man freut sich da geradezu diebisch, dass Nick Hornby mit seinem neuen Roman „A Long Way Down“ seit ein paar Wochen ganz vorn mitmischt; dass sich Pascal Mercier mit seinem philosophischen Roman „Nachtzug nach Lissabon“ (siehe „bücher aus den charts“-kolumne vom 18. 12. 2004) seit 35 Wochen stoisch in den Zwanzigerrängen hält, oder, ja, auch darüber: dass es alle paar Wochen eine neue Ausgabe von Elke Heidenreichs „Lesen!“ gibt. Denn man kann über Heidenreich schimpfen, wie man will, für Bewegung ab Platz 10 sorgt sie nach jeder ihrer Sendungen, oder gleich für ein kleines Wunder. Diesmal hört dieses Wunder auf den Titel „Verlockung“, stammt von dem 1958 in Berlin gestorbenen ungarischen Schriftsteller János Székely und wurde von diesem während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil geschrieben. Ein Wunder ist nicht nur, dass die Heidenreich-Fans das Buch angenommen haben – hat es doch über 800 Seiten, spielt es doch im zeitlich und räumlich weit entfernten Ungarn der Zwanziger- und Dreißigerjahre und ist so gar nicht zu vergleichen mit den hübsch ornamentalen Beziehungsgeschichten eines Sándor Márai. Ein Wunder ist dieses Buch, das 1959 in der DDR bei Volk und Welt neun Auflagen hatte, auch für sich allein – ein lichtes Erzählwunder, das bis zur letzten Seite zu fesseln weiß.

Dabei ist das Leben von Székelys Held Béla ein äußerst beschwerliches. Von Kindesbeinen an sieht er sich in sozialen Randlagen. Seine Mutter kann und will ihn nicht aufziehen („Mich hasste sie vom Tage meiner Geburt an“), sein Vater existiert lange Zeit überhaupt nicht, bis er irgendwann doch auftaucht, und seine Kindheit bis zum 14. Lebensjahr verbringt Béla in einem Heim, das von einer herrischen, geldgierigen Erzieherin und ehemaligen Prostituierten geleitet wird.

Etwas besser wird es, als ihn seine Mutter zu sich nach Budapest holt, in eine Miniwohnung mit schlauchartiger Küche und einem kleinen Raum mit Bett, die sie im Wechsel mit einer anderen Frau bewohnt. Béla wird Page in einem Hotel und pendelt mit seinen Träumen vom sozialen Aufstieg zwischen Elend und Luxus, zwischen seiner familiären Absteige in Uj-Pest und bald auch dem Hotelbett einer feinen Dame – all das zu einer Zeit, da Ungarn unter der Horthy-Diktatur in politischem und wirtschaftlichem Chaos versinkt und der Faschismus allgegenwärtig ist.

Székely erzählt das alles schnell, präzise und mitunter auch aggressiv, und er versteht es, seinen Helden mit einer fein ausbalancierten Mischung aus Härte, Selbstmitleid und Selbstironie auszustatten. Nicht von ungefähr fühlt man sich beim Lesen manchmal wie auf einem Filmset: Székely, der 1901 in Budapest geboren wurde und 1919 nach Berlin emigrierte, debütierte 1926 als Drehbuchautor für den Film „Namenlose Helden“, an dessen Produktion er auch beteiligt war. Bis 1933 verfasste er diverse Drehbücher für den deutschen Stummfilm, was ihn 1934 nach Hollywood führte, unter die Fittiche von Ernst Lubitsch.

Nicht die schlechtesten Voraussetzungen also für einen Roman, in dem sich folgende verräterische Zeilen finden: „Mein Gehirn war wie ein Film, auf den ein Verrückter eine Unzahl Bilder geknipst hat, eines über das andere. Jedes für sich wäre vielleicht gut gewesen, aber alle zusammen ergaben nichts“. Letzteres stimmt nicht, denn Székelys Bilder zusammen ergeben in „Verlockung“ ein großes, farbiges Gesellschaftspanorama. ALEXANDER LEOPOLD

János Székely: „Verlockung“. Aus dem Ungarischen von Ita Szent-Iványi. Verlag Schirmer Graf, München 2005, 812 Seiten, 24,80 Euro