„Ich fange gern was Neues an“

VORBILD Beate Schmeichel-Falkenberg hat eine moderne Biografie: Sie ging ins Ausland, wechselte oft den Beruf. Ihre Enkelinnen hören ihr zu

■ Berufe: Die heute 85-Jährige hat eine Patchworkbiografie. Sie war Lehrerin, Sonderpädagogin, Schulleiterin, Exilforscherin, Journalistin beim BBC, Fernsehmoderatorin beim WDR. „Hier und heute“ hieß die Nachmittagssendung, die sie moderierte.

■ Ehrenämter: Beate Schmeichel-Falkenberg gründete die Arbeitsgruppe „Frauen im Exil“ in der Gesellschaft für Exilforschung, lange war sie im Vorstand. Mehrere Jahrestagungen über Künstlerinnen, Musikerinnen, Wissenschaftlerinnen im Exil richtete sie aus. Einer ihre großen Helden aber ist bis heute Kurt Tucholsky. Auch die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft rief sie ins Leben.

INTERVIEW MARTIN REICHERT

sonntaz: Frau Schmeichel-Falkenberg, kann man wieder stolz sein auf Deutschland? Herr Gauck hat das gerade gesagt, als er in Israel war.

Beate Schmeichel-Falkenberg: Nein, ich bin nicht stolz. Sind Sie stolz auf Ihr Land? Wann sind Sie stolz?

Höchstens wenn ich etwas gut gemacht habe, arbeitsmäßig.

Dann bin ich zufrieden. Aber stolz? Auf die Brust hauen und Fahnen schwingen, wie jetzt wieder bei der EM? Nationalstolz? Das kann ich nicht teilen, da hängt zu viel Vergangenes dran.

Sie haben sich viel mit Holocaust, mit Exil und Exilliteratur beschäftigt – ab den achtziger Jahren.

Vorher war da lange nichts. Vielleicht ein bisschen Thomas Mann. Aber die Exilliteratur, das Studium des Exils überhaupt – Architekten, Musiker, Frauen im Exil – da weiß ja kaum jemand was darüber. Soziologen – massenhaft sind die geflüchtet – viele waren Juden. Und Jüdinnen. Die Soziologie ist tot gewesen hier im Land, obwohl sie doch gerade erst in den Anfängen steckte, neu war. Juden haben sich oft für neue Dinge begeistert. Mir geht das genau so. Ich bin nicht jüdisch, aber ich fange gern was Neues an.

Bei welchen Frauen, die ins Exil gingen, haben Sie erreicht, dass sie bekannter sind?

Else Lasker-Schüler, weil ich daran beteiligt war, eine Gesellschaft mit ihrem Namen zu gründen. Auch die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft habe ich gegründet. Da fällt mir ein: Ich habe noch einen Kleiderbügel von ihm, so einen schweren, alten aus Holz. Und ein Kochbuch, das er damals seiner Freundin schenkte, weil die nicht kochen konnte. Er war ja ein Gourmet.

Was hat er gern gegessen?

Johannisbeergelee und Ente.

Zurück zur Vergangenheitsbewältigung: Ist die im Jahr 2012 womöglich abgeschlossen?

Im Gegenteil. Die Holocaustüberlebenden damals, die haben nicht gesprochen, und ihre Kinder haben geschwiegen. Dann kam die Enkelgeneration und ermunterte die Großeltern, ihre Geschichten aufzuschreiben. Das tun sie bis heute: Es erscheinen ständig Bücher. Manchmal in obskuren Verlagen, weil die großen keine Lust mehr haben.

Ihr dürft niemals Opfer sein, so wie wir – das wurde den Kindern der Überlebenden eingetrichtert.

Viele Kinder wussten gar nicht, dass ihre Eltern im KZ waren. Diese Gruppe, die ich gegründet habe, „Frauen im Exil“, die hat in dieser Beziehung eine großartige Arbeit gemacht. Wir haben mal eine Tagung gemacht über jüdische Kommunistinnen, die im Exil in der Sowjetunion waren und irgendwann im Gulag gelandet waren. Wir haben einen Band gemacht mit allen Namen, die wir gefunden haben. Aber besprochen wird so etwas nicht in den Feuilletons.

Warum nicht?

Eigentlich wird ja viel über die Interessen von Frauen geschrieben. Und es gibt auch viele Journalistinnen. Daran kann es nicht liegen. Aber warum das heute nicht mehr interessiert, das weiß ich wirklich nicht.

Sie sind Jahrgang …?

Muss ich das sagen?

Wir können uns auch vorsichtig herantasten. Sie waren ein kleines Kind, als die Nazis die Macht ergriffen.

Ja, da kam ich gerade in die Schule. Da mussten wir dann das Leben von Adolf Hitler auswendig lernen und so einen Quatsch.

Haben Sie als Kind gemerkt, dass sich unter den Nazis für Frauen alles ändert, dass sie nun Kinder, Küche und Heimatfront bedienen sollten?

Da war nur so ein Gefühl. Dass was Unangenehmes passiert war, das bekam ich über meinen Vater mit, der sich weigerte, in den NS-Ärztebund einzutreten.

Und Ihre Mutter?

Sie war eher unpolitisch. Sie war in einer dieser Gruppen, den Namen habe ich vergessen. Die haben gesungen, sind gewandert, haben sich mit Literatur beschäftigt. Als ich Schülerin war, war dann ja aber alles gleichgeschaltet mit Hitlerjugend, BDM – Bund deutscher Mädels.

Wie war Ihre Mutter?

Sehr, sehr energisch, selbstbewusst. Sie hätte gern studiert, da aber drei Brüder da waren, sollte sie Krankenschwester werden; hat sie auch gemacht. Sie hatte einen prima Mann. Er war ein großer Frauenverehrer. Das hat sich auch auf das Selbstbewusstsein seiner vier Töchter übertragen – allerdings fanden wir uns nicht so schön wie sie. Schwarzes Haar hatte sie. Ich schrieb damals ans Christkind: Ich will schwarze Haare haben, so wie meine Mutter.

Waren Sie im BDM?

Wir hatten Glück. Mein Vater sagte schon 1933, Hitler macht Krieg. Er ahnte, dass Hamm, wo wir lebten, zerstört werden würde, da dort ein riesiger Güterbahnhof war. Deshalb sind wir in unser Ferienhaus ins Sauerland gezogen. Dort forderte niemand uns auf, in den BDM zu gehen.

Sie sind als Teenager in Konflikt mit dem NS-System geraten.

Bei einem Ernteeinsatz habe ich nicht „Heil Hitler“ gesagt, das gab Ärger. Und in diese Zeit fiel auch der 20. Juli, wir mussten antreten auf dem Hof, uns wurde mitgeteilt, dass das Attentat gescheitert war. „Mist“, sagte ich zu meiner Freundin. Das hatte jemand gehört und mich bei der Lagerleitung verpfiffen. Andere sind für so was ins KZ gekommen, aber ich hatte Glück, weil die Vorgesetzte einfach nur verstehen wollte, warum ein deutsches Mädchen so etwas denken konnte. Sie war sprachlos, unternahm aber nichts weiter.

Wie haben Sie sich 1945 gefühlt, als der Krieg zu Ende war?

Es war so wunderbar. Ich kann bis heute nachempfinden, wenn Leute „Freiheit“ schreien. Es war eine Befreiung. Die Angst war weg. Wir konnten nun alles lesen und lernen, was wir wollten. Es war ein Gefühl von Anfang – und ich habe mich beeilt, mit dem Studium zu beginnen. Nach Göttingen bin ich gegangen. Germanistik und Anglistik auf Lehramt – aber wir haben damals alles studiert. Ein Studium generale – aus Lust am Neuen! Meinen Mann lernte ich in der Mensa kennen. Seine Mutter war Jüdin. Er war in Deutschland geblieben, eine Zeit lang war er sogar in der Wehrmacht. Man wusste nicht, dass er „halbjüdisch“ war. Als es rauskam, musste er sich verstecken. Wir waren ein großer Freundeskreis. Uns hat verbunden, dass wir gegen die Nazis waren und Lust auf Neues hatten.

Sie wurden Lehrerin.

Nach dem Studium ging ich erst mal nach London und arbeitete bei der BBC in einer Redaktion, in der Hörerfragen beantwortet wurden. Meine Schwiegereltern waren ja wegen der Nazis ins Exil nach London gegangen. Durch sie habe ich erfahren, was Exil bedeutet. Nach vier Jahren sind mein Mann und ich zurück nach Deutschland. Ich wurde Lehrerin in Münster. Diese Ehe wurde dann aber geschieden, und ich habe ein zweites Mal geheiratet.

Herrn Schmeichel.

Der wollte damals auch aus seinem alten Leben aussteigen und in ein neues – wir überlegten uns, dann Sonderpädagogik zu machen, für Kinder, die etwas Besonderes sind, zum Teil behindert. Wir haben noch zwei Semester Sonderpädagogik aufgestockt und gründeten die Schule für Körperbehinderte in Mössingen – da sind wir beide sehr froh, dass die noch immer so gut läuft.

Einfach so ins Ausland, einfach so ein neues Leben beginnen – heute ist das normal. Zu Ihrer Zeit aber doch nicht.

Stimmt.

Brauchten Sie Mut?

Überhaupt nicht. Mein Mann war der erste Student, der ein Auslandsstipendium bekommen hatte, in der Schweiz. Er war in Zürich, und ich habe ihn dann oft besucht – das war etwas Tolles, und alle versuchten dann, ein solches Stipendium zu bekommen. Harvard Summer School.

„Bei einem Ernteeinsatz habe ich nicht ‚Heil Hitler‘ gesagt, das gab Ärger“

Was ich noch sagen will – wenn Sie sich die jungen Frauen von heute anschauen, sind die im Vergleich zu Ihrer Generation emanzipierter?

Leider, leider nicht. Es gibt auch wirklich Rückschritte.

Seit wann stellen Sie das fest?

In den letzten fünf bis sieben Jahren. Frauen sind Dinge wichtig, die mir gar nicht wichtig sind. Was sie anziehen, wo sie ihre Klamotten kaufen. Wie das Make-up auszusehen hat. Ich sehe das bei meiner Enkelin, sie ist zwar politisch interessiert, aber das Äußere ist ihr unglaublich wichtig.

Ihre Enkelinnen, was wollen die von Ihnen wissen?

Sie kommen, wenn sie Probleme mit Männern haben.

Können Sie helfen?

Sie hören zumindest zu, wenn ich etwas sage.

Was sagen Sie Ihnen?

Dass sie handeln sollen, nicht jammern. Dass sie reden sollen, nicht schweigen, dass sie herzoffen sein sollen und die Liebe nicht übers Knie brechen.

Glauben Sie, dass das, was Sie in Ihrem Leben getan haben, für Ihre Enkelinnen von Bedeutung ist?

Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber mein ältester Enkel hat gerade seine Abschlussarbeit geschrieben, über Asylfragen – Traumabildung bei Exilanten. Er hat die Arbeit mit einem Zitat von mir beendet, es stand irgendwann mal in einer Zeitung. Er hat seine eigene Großmutter zitiert – und das fanden alle toll.

Was stand in dem Zitat?

Dass ich mich dafür schäme, was mit Asylbewerbern in Deutschland passiert. Ich bin wütend, wenn ich sehe, dass morgens um fünf Familien aus dem Bett geholt werden, um sie abzuschieben. Mit Kindern, die nur Deutsch sprechen und gar nichts anderes kennen als Deutschland. Man müsste so einen Burschen mal erwischen, der das anordnet. Die sitzen im Landratsamt an ihren Schreibtischen. Was haben Deutsche in der Nazizeit im Ausland erlebt, und wie wurden sie aufgenommen. Es war kein Zuckerlecken, aber kaum ein Land hat sich doch verschlossen.