Der Blick aufs Ganze

LABEL Im Februar wurde erstmalig das „Qualitätssiegel Nachhaltiger Wohnungsbau“ vergeben. Sechs Neubauprojekte erhielten das Zertifikat

Das im Herbst 2011 bezogene Mietshaus verfügt über etwas, womit sich bislang nur noch fünf weitere Häuser schmücken können. Spektakulär sieht der Bau entlang des Lieberwegs im Münchner Stadtteil Harthof nicht aus: vier Geschosse mit Ziegeldach darauf. Die Stärken dieses Gebäudes werden erst beim Blick hinter die Fassaden sichtbar. Der Mix aus 68 Mietwohnungen reicht von einem bis zu sechs Zimmern und bietet eine Vielzahl an Wohnungstypen und Wohnungsgrößen. Das Haus ist zu 100 Prozent barrierefrei erschlossen und besitzt vier rollstuhlgerechte Wohnungen. Hier ist Raum für Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Auch energetisch punktet das Gebäude. Es wurde im Energieeffizienzhaus-70-Standard mit einer zusätzlichen thermischen Solaranlage errichtet. Damit lag es „zum Genehmigungszeitpunkt weit über dem gesetzlich geforderten Mindestniveau“, betont die Städtische Wohnungsgesellschaft GWG München, die das Haus gebaut hat und vermietet. So weit, so schön: Da hat ein kommunales Wohnungsunternehmen also ein Mietshaus realisiert, das sich in Sachen Komfort, Soziales und Energie sehen lassen kann – nicht spektakulär, aber vorbildlich. Kürzlich ist dieses Gebäude aufgrund seiner Qualitäten ins Rampenlicht gerückt. Es erhielt – wie fünf weitere Projekte – das „Qualitätssiegel Nachhaltiger Wohnungsbau“.

Ein eigens dafür gegründeter Verein zur Förderung der Nachhaltigkeit im Wohnungsbau (NaWoh) hat im Februar die ersten sechs „Qualitätssiegel Nachhaltiger Wohnungsbau“ vergeben. Das Siegel wird für neue Wohngebäude vergeben, die den Kriterien des Nachhaltigkeitsbewertungssystems entsprechen und die sich auf freiwilliger Basis einer umfangreichen und umfassenden Prüfung unterzogen haben. NaWoh wurde von Akteuren der Wohnungswirtschaft ins Leben gerufen. Gründungsmitglieder sind unter anderem der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW), der Verband Privater Bauherren und der Deutsche Mieterbund.

In die Bewertungskriterien des Labels fließen soziokulturelle, funktionale und technische Faktoren ein. Auch Lebenszykluskosten, Wertstabilität, Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit werden berücksichtigt – also sowohl ökonomische als auch ökologische Aspekte.

Die gesetzlichen Anforderungen für Wohnungsbau sind in Deutschland ohnehin schon hoch. Daran orientiert sich das Label im Wesentlichen auch. Das Bewertungssystem geht dennoch weiter: Es soll die gesamte Bandbreite der Nachhaltigkeitsthematik abdecken. Neben energetischen Aspekten rücken so unter anderem auch Barrierefreiheit, die Qualität der Bauausführung oder die Freiflächengestaltung in den Fokus. In einigen Bereichen gehen die Mindestanforderungen des Siegels auch über das gesetzliche Muss hinaus, etwa beim Schallschutz.

Die bewertenden Kriterien sieht Manfred Hegger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), jedoch kritisch: Da fielen „deutliche Unterschiede zwischen der Herangehensweise des NaWoh und den Standards des DGNB“ auf. Hegger vermisst zudem „eine Prüfung der zertifizierten Qualität, etwa durch eine verpflichtende Messung der Raumluftqualität, um Schadstoffe in Innenräumen soweit wie möglich auszuschließen“. Dies sei gerade bei Wohnungen ein wichtiges Thema. Trotz aller Kritik an einzelnen Punkten: „Diese Aktivität spiegelt im Grunde eine erfreuliche Entwicklung“, so Hegger. „Sie zeigt, dass sich das nachhaltige Bauen verbreitet und etabliert und dass Bauherrn und Bewohner einen soliden Nachweis der Umweltfreundlichkeit, der Funktionalität und Wirtschaftlichkeit ihrer Wohnung wünschen.“ Die Bewohner des Hauses im Lieberweg werden so oder so über ihre Wohnungen erfreut sein, ob mit oder ohne Siegel.LARS KLAASSEN