Wiedersehen in wüstem Land

AUS BANDA ACEH ANETT KELLER

Sri Handayani, die 15-jährige Tochter eines Holzfällers, geht in Zeitlupentempo auf ihren Vater zu und fällt ihm schließlich um den Hals. Minutenlang halten sich die beiden in den Armen. Minutenlang ist nichts zu hören außer lautem Schluchzen – und dem Klicken von dutzenden Kameras. Die Journalisten sind vom UN-Kinderhilfswerk Unicef hierher gebeten worden, denn mithilfe von Unicef haben sich Vater und Tochter wieder gefunden.

Seit Sri am 19. Dezember aus ihrem Heimatdorf im Norden der indonesischen Insel Sumatra zu einer Tante ins 250 Kilometer südlich gelegene Meulaboh fuhr, hat sie ihn nicht mehr gesehen. Bis zum vergangenen Mittwoch, als sie ihn im Blitzlichtgewitter der Kameras im Hof des Sozialamts der Provinzhauptstadt Banda Aceh trifft. Vor einem Monat wusste sie nicht einmal, ob er noch lebt. Inzwischen hat sie erfahren, dass ihre Mutter und eines ihrer vier Geschwister den Tsunami nicht überlebt haben.

131.029 Leichen von indonesischen Tsunami-Opfern wurden nach offiziellen Angaben gefunden. Von 37.000 Menschen fehlt jede Spur. Wer inmitten der Trümmerwüsten steht, die früher einmal Dörfer waren und wo außer Palmenstümpfen, gefliesten Hausböden und verstreuten Ziegelresten nichts mehr existiert, bekommt eine Vorstellung, warum das so ist. Noch immer suchen in Aceh, der von der Flutwelle am stärksten betroffenen Provinz Indonesiens, tausende Eltern nach ihren Kindern, warten Kinder auf ein Lebenszeichen der Eltern.

In Flüchtlingslagern und vor den Büros der Kinderhilfswerke stehen Tafeln, tapeziert mit Kinderfotos. Rund 4.000 Eltern haben Suchformulare ausgefüllt. Bislang wurden etwa 2.000 Waisenkinder registriert, davon 70, die keinerlei Verwandte mehr haben. Dennoch gibt es kaum Bedarf an Waisenhäusern. Die meisten Kinder wurden direkt von Verwandten aufgenommen und tauchen ohnehin in keiner Statistik auf. Einige finden in Religionsschulen mit Internat Unterschlupf. Als unmittelbar nach dem Tsunami Gerüchte kursierten, dass Kinder verschleppt worden seien, um sie an adoptionswillige Eltern zu verkaufen, stoppte die Regierung die Ausreise Minderjähriger ohne mitreisende Erziehungsberechtigte. Völlig ausschließen kann jedoch niemand, dass im Chaos der ersten Wochen nicht alle wohl meinende Absichten hatten, die sich hier eines Kindes annahmen.

Unter den Kinderfotos auf den Tafeln stehen deshalb keine Namen geschrieben, sondern Codes aus Buchstaben und Zahlen. Bevor die Familie wieder zusammenkommt, wird ausführlich geprüft, ob es wirklich die richtigen Eltern sind, die sich gemeldet haben. Das Wiedersehen von Sri und ihrem Vater ist die 143. Familienzusammenführung mithilfe einer internationalen Organisation. Von Tag zu Tag schmilzt die Hoffnung, dass es noch viel mehr werden. Deswegen konzentriert man sich bei Unicef jetzt darauf, die Verwandten bei der Legalisierung als Erziehungsberechtigte zu unterstützen und ihnen materielle Hilfe zukommen zu lassen.

Ein halbes Jahr nach der Katastrophe solle sich niemand mehr verzweifelt an den Glauben klammern, seine Lieben noch wiederzufinden, sagt auch Yeyen Kahar, die Leiterin von Yayasan Anak Bangsa (YAB), einem Kinderhilfswerk aus Aceh. Im YAB-Büro sitzen mehrere Frauen an einem langen Tisch, falten bunte Kärtchen und kleben sie in Bücher. In wenigen Tagen wird sich eine fahrende Bibliothek in Bewegung setzen und in Flüchtlingslagern Kinder mit Lesestoff versorgen. Unterstützt wird das Projekt vom deutschen Kinderhilfswerk Terre des hommes. YAB kümmert sich vor allem um Kinder in den zahlreichen Barackenlagern, in denen zehntausende Obdachlose leben.

In Neuheun, nahe der Provinzhauptstadt Banda Aceh, stehen 49 Baracken auf einem steinigen Plateau. Wasser bringen Tankwagen, Lebensmittel die Hilfsorganisationen, Arbeit gibt es kaum. Die Gefahr, in solchen Lagern Menschen abhängig von Hilfe und damit ein zweites Mal zu Opfern zu machen, ist greifbar. Die einzig Aktiven scheinen Kinder und Jugendliche zu sein. Vor einer Baracke wird emsig gehämmert. Aus losen Brettern entsteht eine Bühne. Ein weißes Tuch wird unter Einsatz vieler Kinderhände und dutzender Farbtuben zum bunten Hintergrund einer Aufführung, die die Kinder vorbereiten. Aus der Baracke dringt Trommeln. Eddy und Bety, zwei Sozialarbeiter von YAB, studieren mit einer Gruppe Jungen ein traditionelles Musikstück ein. Sie knien in einer Reihe auf dem Boden, trommeln, singen und klatschen abwechselnd dem linken und dem rechten Nachbarn in die Hände. Immer schneller muss das gehen, so will es die uralte Choreografie. Mit dem Erlebten fertig zu werden und Zuversicht zu gewinnen funktioniere am besten in der Gemeinschaft, sagt Bety.

Wie viele Menschen ihre Zukunft hier aus eigener Kraft meistern werden und wie viele einer intensiven psychologischen Betreuung bedürfen, ist noch nicht absehbar, meint die deutsche Psychologin Inge Missmahl. Sie hat für die Caritas in Afghanistan psychologische Beratungszentren aufgebaut und berät das Hilfswerk nun in Aceh. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommen 80 Prozent der Überlebenden von Katastrophen gut zurecht, wenn sie schnell wieder zum „Alltag“ zurückkehren können. Nur 2 bis 5 Prozent benötigten eine wirkliche Therapie. Inge Missmahl glaubt, dass es in Aceh wesentlich mehr sind. Zum einen, weil es sich bei vielen um eine „kumulative Traumatisierung“ handle, weil sie bereits jahrelang Zeugen eines blutigen Bürgerkriegs waren. Zum anderen, weil viele Überlebende ihre Angehörigen nie fanden und nicht durch Trauerarbeit ein Stück Abstand gewinnen konnten. Dazu kommt ein grassierender Mangel an geschultem Personal. „Viele Organisationen sagen zwar, sie machen Traumaarbeit, aber Volleyballspielen ist keine Traumaarbeit“, sagt Missmahl. Dennoch schätzt sie die Betreuungsprogramme für Kinder als enorm wichtig ein. „Sie helfen, weil sie andere Realitäten schaffen. Oft reicht es, in einer sicheren Umgebung Neues zu erleben und die Selbstheilungskräfte zu stärken.“

Im Dorf Pieng, etwa 20 Kilometer östlich von Banda Aceh, wird deutlich, was Aufmerksamkeit und eine intakte Umgebung bewirken können. Jeden Mittwoch fährt dort der schwarze Kleinbus von Sefa, einer örtlichen Partnerorganisation der Caritas, vor. Etwa 50 Kinder stürmen auf ihn zu und umringen die Sozialarbeiterinnen. Pieng, idyllisch inmitten von Reisfeldern gelegen, war nicht vom Tsunami betroffen. Viele Kinder sind jedoch hier bei Verwandten untergeschlüpft. Die Sefa-Frauen lernen und spielen mit ihnen. Viele sind keine ausgebildeten Lehrer, sondern selbst noch Studentinnen.

Die 22-jährige Nanda ist für den Erdkundeunterricht zuständig. 25 Kinder sitzen im Schatten von Palmen im Schneidersitz auf dem Rasen vor der Moschee, und lesen in bunten Comicbüchern, die von Psychologen entwickelt wurden. Kindgerecht ist hier erklärt, wie ein Tsunami entsteht. „Geschehenes Unglück können wir nicht rückgängig machen“, erzählt ein sprechender Baum den Schülern. Aber wir können für die Zukunft sorgen, indem wir nicht die Bäume fällen, die uns vor Fluten schützen. Oder die Korallen zerstören, die die hohen Wellen bremsen können.“ Die Bücher, die in einem Lernkoffer mit Bastelset und einer Weltkarte stecken, sind begehrt. „Jeder hat bereits mindestens einen Koffer bekommen. Und jede Woche kommt die Mehrheit zum Unterricht und sagt, sie hat noch keinen“, seufzt Nanda.