Die lange Ebbe nach der Flut

VON CLAUDIA PIUNTEK

Adi Koviladhi. Der Strand ist immer noch voller Trümmer. Bohlen kaputter Boote neben Schutt und alten Plastikflaschen. Auf einem Mauerrest hocken Raben und halten Ausschau nach Nahrung. „Der Tsunami hat mehr als hundert unserer Häuser zerstört“, sagt Mohammad Kandee. Die Fischer haben auch die meisten Boote verloren. Ihre Familien sind im Landesinnern untergebracht. Kandee verbringt seine Tage in einer der Ruinen an der Küste: „Wenn wir auf Fang gehen wollen, müssen wir das Meer beobachten.“ Er spricht aus, was alle hier denken. 30 Fischer haben sich am Strand versammelt, weil sie wütend auf die Regierung sind, die ein Bauverbot an der Küste plant. Der Fischer Nadana Sihamani sagt: „Was nützen uns Häuser im Landesinnern. Wir leben vom Meer und müssen auch am Meer leben.“

Die Bewohner von Adi Koviladhi fühlen sich von den Behörden in der Hauptstadt Colombo vernachlässigt. Der Fischerort im äußersten Norden Sri Lankas liegt in einer der ärmsten Gegenden. Von der Regierung haben die Überlebenden auch Monate nach der Katastrophe nur Lebensmittelkarten erhalten. Aber die Fischer wollen keine Almosen, sondern Arbeit. „Ohne die Hilfe aus dem Ausland wären wir verloren“, sagt Kandee. Die Hilfsorganisationen brachten 17 neue Boote, spendeten Kochgeschirr, Möbel und Schulbücher.

Kalkudah. Auch an der Ostküste Sri Lankas ist an Wiederaufbau noch nicht zu denken. Das Städtchen Kalkudah wurde frontal vom Tsunami getroffen. Kilometerweit schoben die Wassermassen sich ins flache Land, wälzten Häuser, Straßen und Brücken nieder. Karim Jezen überlebte die Katastrophe, seine Frau und zwei der drei Kinder starben. Obwohl das Haus der Familie 400 Meter von der Küste entfernt stand, muss der Aufbau warten. Das hat auch mit dem Bürgerkrieg zu tun, der in Sri Lanka 20 Jahre lang tobte. Denn seit Februar 2002 gilt zwar ein Waffenstillstand, aber die Kriegsparteien stehen sich nach wie vor misstrauisch gegenüber. Überall im Osten gibt es Armeecamps. Auch in Kalkudah. „Aus dem Camp wurden Landminen weggeschwemmt, und die müssen erst gefunden werden, bevor wir wieder bauen können“, sagt Karim Jezen. Er lebt mit seinem Sohn in einem Zeltlager, bis die Gegend minenfrei ist. In den verwüsteten Städten und Dörfern weisen immer wieder grelle Warnschilder und Banderolen auf die Gefahr durch Minen hin. In den von den Rebellen kontrollierten Gebieten mussten Helfer der Norwegian People’s Aid fast den gesamten Küstenstreifen absuchen, bevor Notunterkünfte errichtet werden konnten. Die Tsunami-Überlebenden schliefen tagelang unter freiem Himmel. Ganze Dörfer an der Ostküste wurden zerstört. Die Menschen hier sind so stark traumatisiert, dass sie nicht mehr am Wasser leben wollen. Viele Fischer wollen den Beruf wechseln.

Arugam Bay. Dass dieser Ort vor kurzem bei Surfern beliebt war, ist unvorstellbar. Aus dem Trümmerfeld, das das Seebeben hinterlassen hat, ragt ein Schild heraus. Es wurde gleich nach der Katastrophe wieder aufgestellt und ist ein beliebtes Fotomotiv für die wenigen Touristen, die an die Ostküste kommen: „Hotel Tsunami“ steht darauf. Bis zum Dezember glaubte hier niemand an Riesenwellen, dafür aber an den Gewinn bringenden Klang eines mythischen Hotelnamens. Das Hotel Tsunami wurde wie beinahe alle Häuser in Strandnähe von der Welle weggewischt. Die Hotelbesitzer haben sich in einer Kooperative zusammengeschlossen. Da sie kaum Unterstützung von offizieller Stelle bekommen, helfen die Betroffenen sich gegenseitig. „Die Regierung schert sich nicht um den Osten und Norden“, sagt der Gästehausbesitzer Rauf Murthi. Obgleich die Präsidentin allen Betroffenen günstige Darlehen versprochen hat, lehnen die Banken ab: „Keine Kredite ohne Sicherheiten, aber die haben wir nicht mehr.“

Arugam Bay war nach der Flut lange Zeit von der Außenwelt abgeschnitten. Die Betroffenen mussten für die Notversorgung selbst aufkommen und verbrauchten alle Rücklagen. Zum Saisonstart im Mai stellte die Hilfsorganisation Mercy Corps den Gästehausbesitzern Zelte für Touristen zur Verfügung. Damit baut Rauf Murthi Stück für Stück seine Herberge am Strand wieder auf. Eine Genehmigung hat er nicht. Wie alle anderen Hotelbetreiber, die jetzt schon mauern und zimmern, riskiert er den Abriss des Gebäudes. „Polizei und Armee haben die Order, Bauarbeiten nahe der Küste zu verhindern.“ Die Regierung will eine „Küstenerhaltungszone“ durchsetzen; in Strandnähe soll nicht mehr gebaut werden dürfen. In den Urlauberzentren ist eine 100 Meter breite Bannzone im Gespräch, an der Ostküste sind es gar 200 bis 300 Meter. „Die in Colombo träumen wohl“, sagt der Hotelier verärgert, „Urlauber wollen am Strand wohnen und nicht im Landesinnern.“ Die Hilfsorganisation Medico International spricht von einer zweiten Vertreibungswelle: Die Küsten sollen für Fischindustrie und internationalen Tourismus frei geräumt werden.

Mirissa. Überall entlang der Küste lähmt die unsichere Rechtslage den Wiederaufbau. Umgeknickte Palmen und zerbrochene Latten liegen an der Bucht von Mirissa im Süden. Direkt am Strand stehen die Überreste des Paradise Beach Club. Vom Restaurant und fast allen Bungalows sind nur die Fundamente geblieben. Die meisten Trümmer sind weggeräumt, Hotelmanager Ananda Jayadewa wartet immer noch auf eine Genehmigung für den Aufbau der zerstörten Anlage. Im Garten produziert er mit seinen Angestellten Zementsteine: „Die lassen sich in Sri Lanka jetzt gut verkaufen, und ich brauche niemanden zu feuern.“

Hambantota. Nirgendwo in Sri Lanka rückten die Planierraupen so rasch an wie hier. Obwohl ganze Straßenzeilen ausgelöscht wurden, waren die Trümmer schnell beiseite geschafft. Die Stadt befindet sich im Wahlbezirk des Ministerpräsidenten Mahinda Rajapaksa. Für 98 Prozent der zerstörten Häuser hat der Politiker in seinem Bezirk schon Pläne für den Wiederaufbau vorgelegt, in allen anderen Distrikten des Landes liegt der Anteil bei unter 10 Prozent. Der Tsunami machte ein Areal von der Größe mehrerer Fußballfelder dem Erdboden gleich. Die Überlebenden hausen in Zelten oder eilig gezimmerten Holzhütten. Abseits der Küste wird eine riesige Siedlung mit festen Häusern hochgezogen. „Was sollen wir dort?“, fragt ein verzweifelter Fischer, während er den Rumpf seines neuen Bootes mit dem Stechbeitel bearbeitet. Nahe der neu geplanten Siedlung stehen Lehmhütten. Deren Bewohner sind aufgebracht, weil die Tsunami-Opfer von der Küste komfortable Steinhäuser erhalten sollen. „Ich bekomme nur eine kleine Entschädigung, weil mein Mann ums Leben gekommen ist“, empört sich die Anwohnerin Hamida Keerthi. Nicht nur im Distrikt Hambantota herrscht Neid.

Hikkaduwa. „Thank you very much!“ – in dem Touristenort Hikkaduwa hat der Gemeinderat ein Banner angebracht, um sich bei den Ausländern für die großzügigen Privatspenden zu bedanken. Rolf Moennich, der die Insel seit 27 Jahren bereist und viele Freunde in Sri Lanka hat, machte sich von Augsburg aus auf den Weg ins Krisengebiet: „Als ich hörte, was hier passiert ist, plünderte ich mein Konto und sammelte Geld in Deutschland, um vor Ort zu helfen.“ In dem Urlauberparadies an der Südwestküste waren die größten Schäden schnell behoben. Die Gästehausbesitzer hatten ihre Häuser schon repariert, als die Kontrolleure anrückten. „Bei mir ist kaum etwas kaputtgegangen“, sagt Sarath Fernando. Probleme mit den Bauvorschriften hatte der Hotelier nicht, weil die Zerstörungen an seiner Anlage nie offiziell erfasst wurden.

In Pereliya, nördlich von Hikkaduwa, sind Privathelfer aus aller Welt zu Gange. An einem frisch bezogenen Steinhaus prangt die Aufschrift „Hameln-Pyrmont hilft“. Neben Zelten mit den Emblemen von Hilfsorganisationen zimmern Briten, Dänen und Deutsche an Hütten und einer Behelfsschule. Viele der hastig erbauten Unterkünfte sind unbewohnt, weil sie bei Regen im Wasser versinken oder sich die tropische Hitze in ihnen staut.

„Hier gibt es viel blinden Aktionismus“, meint Rolf Moennich. Der Privathelfer aus Augsburg kennt einen Fischer, der jetzt zwei eigene Boote besitzt, obwohl er früher nur mit einem Leihboot auf Fang gegangen war. „Die Hilfsorganisationen schaffen inzwischen Fischerboote aus den Touristengebieten in die ärmeren Tamilenregionen“, sagt Georg Schmidt von der deutschen Botschaft. An das Versprechen der Regierung, ein Jahr nach der Katastrophe wären 90 Prozent aller festen Wohnhäuser für Tsunami-Opfer fertig, glauben die Überlebenden von Pereliya nicht. Ein Fischer, der mit seiner Familie im Inland bei Verwandten untergekommen ist, sagt: „Es wird Jahre dauern, bis wir alle wieder ein festes Dach über dem Kopf haben.“

Die Recherchen zu dieser Reportage fanden Anfang Mai statt