Theaterstück „Mother Tongue“ in Berlin: Arbeit an der Zukunft

In „Mother Tongue“ im Gorki Theater Berlin lässt die Regisseurin Lola Arias Geschichten rund um Sex, Reproduktion und queere Familienmodelle erzählen.

Auf einer Bühne verharrt unten eine Gruppe in stilisierten Gesten, über ihnen sieht man Engel und davor eine Schauspielerin auf einer Galerie

Der Moment, in dem Darstellerin Nyemba M'Membe mit dem Muttersein hadert in „Mother Tongue“ Foto: Ute Langkafel

Engel fliegen durch die Bilder auf der Bühne, doch die junge Frau davor tobt eher, als sei sie in der Hölle gelandet. Tanzen gehen will sie, aber seit ihr Kind auf der Welt ist – die Geburt mit Kaiserschnitt liegt einige Szenen zurück – besteht ihr Leben nur noch aus Wischen, Stillen, Putzen, Schmerzen, Waschen. Was alle Welt an Babys findet, kann sie grad gar nicht mehr sehen, an diesen scheißenden und schreienden Bündeln. Genervt zieht sie über gluckende Mütter im Park her und mitleidige Blicke.

Stück für Stück zerlegt die Darstellerin Nyemba M'Membe dabei auf einer Galerie das Bild von einer Frau, die im Muttersein Erfüllung findet, derweil das Ensemble auf der Bühne unter ihr, das eben noch die verzückten Gesten von Heiligen markierte, langsam in sich zusammensackt.

Das Solo von Nyemba M'Membe ist ein witzigster Contrapunkt in dem Stück „Mother Tongue“, das die Regisseurin Lola Arias mit den Darstellenden erarbeitet hat. In Berlin entstand für das Gorki Theater die dritte Fassung der, wie es im Untertitel heißt, „Enzyklopädie der Reproduktion im einundzwanzigsten Jahrhundert“.

Wie die vorigen, in Bologna und Madrid entstandenen Versionen, beruht es auf Gesprächen mit Experten und Betroffenen, Interviews und Workshops, in denen Geschichten gesammelt wurden um den Mutterwunsch, künstliche Befruchtung, Co-Parenting, schwule Väter, queere Familienmodelle und Pflegefamilien.

Die rechtlichen Hürden

In zehn Kapitel ist die Enzyklopädie gegliedert, von Aufklärung über Kinderwunsch und Geburtsurkunde zur „Mutter der Zukunft“. Was in Berlin erzählt wird, beruht auf den Geschichten der Mitspielenden, die sich uns nach und nach vorstellen. Sie spielen aber nicht nur sich selbst, sondern übernehmen in den Geschichten der anderen auch andere Rollen. Die meisten Episoden sind im queeren Kontext angesiedelt. Ein Fokus liegt auf den rechtlichen Hürden, die etwa ein Transvater, der mit zwei lesbischen Frauen ein Kind hat, überwinden muss und auf den politischen Forderungen nach Verbesserungen des rechtlichen Rahmens.

Die Inszenierung hat viel von einem Feature mit O-Tönen, ein Stück Dokumentartheater, das häppchenweise unterschiedliche Erzählstränge vorantreibt. Da die Darstellenden auch die Rollen wechseln, fällt die Zuordnung der Informationen nicht immer ganz leicht.

Alle sieben haben interessante Biografien: Ufuk Tan Altunkaya, in Deutschland geboren, in der Türkei aufgewachsen, erzählt von seinem schwierigen Comingout in der Türkei, dem Rückzug nach Deutschland mit seinem Mann und der Gründung einer Familie mit der Berlinerin Franzi über das Co-Parenting. Das erste Date zwischen ihm und Franzi ist dann eine der vielen Spielszenen, die damit erheitern, dass es ja keine eingeübten Muster für diese Kontakte gibt.

Kay Garnellen stellt sich uns als Transmann, Sexarbeiter und Performer vor, redet über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter, seine Elternschaft mit zwei lesbischen Frauen und belebt das Bühnengeschehen mit sexy Auftritten.

Kaleidoskop kurzer Szenen

Millay Hyatt erzählt vom langen Weg zum Kind, das auf biologischem Weg nicht kommen wollte, von jahrelangen Adoptionsversuchen und dem mühsamen Weg zur Pflegeelternschaft. Szenisch ist das aufgelöst in kurze Telefonate, die die vielen frustrierenden Absagen in einen Behördenslapstick übersetzen.

„Mother Tongue“, wieder am 18. + 19. September und 26. Oktober im Gorki Theater Berlin

So gleicht der Abend einem Kaleidoskop, unterbrochen von Songs und Tanzszenen, der vieles anreißt, aber wenig vertieft. Die Perspektiven bleiben nah an den Figuren; die eingangs beschriebene Szene, die von der Klage einer Mutter abhebt in die Zeichnung eines verrückten Zustands, der nicht nur über eine Figur erzählt, sondern auch viel über den Erwartungshorizont an das Muttersein, ist eher die Ausnahme. So bleibt die Inszenierung doch im Kleinteiligen stecken.

Das Publikum der Premiere freute sich über die Inszenierung, spendete den Mitwirkenden, die nur zum Teil Bühnenprofis sind, Szenenapplaus. Es spiegelte damit, dass es um Ermutigung und Ermächtigung geht, solche alternativen Familienentwürfe offen zu leben und dafür zu kämpfen, dass sie einen besseren Weg zur rechtlichen Gleichstellung erhalten.

Am Ende allerdings, im letzten Kapitel, „Mutter der Zukunft“, stellte das Team eine doch eher fragwürdige Utopie auf die Bühne: von Elternschaften, die auf Kollektive von mindestens zehn Menschen verteilt werden sollen. Von Samenspenden und Eizellen, die in allen zugänglichen Banken lagern. Das erinnerte dann doch eher an Science-Fiction-Szenarien, in denen die Kontrolle der Reproduktion der Anfang des Totalitarismus ist.

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