Rechte Anschlagserie in Berlin-Neukölln: Terroropfer gibt der AfD Contra

Ferat Koçak sagt im Untersuchungsausschuss aus: Der Abgeordnete liefert sich Wortgefechte mit der AfD und kritisiert mangelnde Öffentlichkeit.

Koçak hält ein Mikrofon auf einer Kundgebung vor dem Berliner Abgeordnetenhaus

Ferat Koçak vor der ersten Sitzung des Untersuchungsausschusses Neukölln Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

BERLIN taz | Es ist der Moment, vor dem sich Ferat Koçak gefürchtet hat. 2018 haben mutmaßlich Neonazis im Verlauf einer jahrelangen rechtsextremen Terrorserie, dem sogenannten Neukölln-Komplex, auch Koçaks Auto direkt vor seinem Elternhaus angezündet. Vier Jahre später sitzt dafür auch ein ehemaliger Kreisvorstand der AfD Neukölln auf der Anklagebank des Amtsgerichts. Und nun, an diesem Freitag in der vierten Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Neuköllner Terrorserie, soll Koçak als Zeuge Fragen eines AfD-Mitglieds beantworten.

Der AfD-Abgeordnete Antonín Brousek scheint die Situation zu genießen. Als Erstes fragt er nach den Vornamen von Koçaks Eltern, weil er diese angeblich auch als Zeugen hören wolle. Koçak, der gerade erklärt hat, seit dem Brandanschlag traumatisiert zu sein und dass seine Mutter ein paar Wochen nach dem Anschlag einen Herzinfarkt hatte, sagt nur: „Das will ich nicht beantworten.“

Dann als, Brousek direkt wieder ansetzen will, um nachzubohren, wird Koçak etwas lauter: „Soll ich auch sagen, warum?“, fragt er wütend und holt dann aus: „Auf der Anklagebank sitzt jemand, der zur Tatzeit im Vorstand der AfD Neukölln war, mit Verbindungen zu zahlreichen anderen AfDlern – auch in Uniform.“

In zahlreichen Skandalen des Neukölln-Komplexes spiele die AfD eine Rolle, so Koçak, die AfD selbst sei Untersuchungsgegenstand: „Mir macht es Angst, als Opfer eines rechten Brandanschlages jetzt Fragen zu beantworten von jemandem einer rechten Partei mit Faschisten in ihren Reihen!“

Nächtliche Szene eines brennenden Autos neben einem Wohnhaus

Foto: Ferat Kocak/dpa/Linke Berlin

Eindrücklich hat Koçak am Freitag in dem Untersuchungsausschuss Neukölln über zwei Stunden lang die Geschichte geschildert, die ihn seit mehr als vier Jahren heimsucht. Wie er im Februar 2018 nachts um drei zufällig aufwachte und das Feuer vor seinem Elternhaus bemerkte. Wie er schreiend seine Eltern weckte, seine Mutter zitterte und sein Vater verzweifelt war. Wie er gerade noch mit einem Feuerlöscher verhindern konnte, dass das Feuer auf das Haus übergreift. Wie ein Feuerwehrmann zu ihm sagte, dass es fünf Minuten später für ihn und seine Eltern eng geworden wäre.

„Wir hatten Todesangst“

„Wir hatten alle Todesangst. Meine Eltern hätten sterben können, weil ich mich politisch und gegen rechts engagiere“, sagt Koçak. Und er erzählt davon, wie die Polizei noch in der Tatnacht nach einem möglichen türkisch-kurdischen Konflikt als Hintergrund fragte, weil Koçak kurdische Wurzeln habe. Und wie ihm die mangelnde Aufklärung der Terrorserie weiter zugesetzt habe: Seinen Schock, als er erst durch die Presse erfuhr, dass Tonbandaufnahmen existieren, die belegen, dass die Sicherheitsbehörden wussten, dass er im Vorfeld des Anschlags von den mutmaßlichen Tä­te­r*in­nen observiert wurde – und die Behörden ihn trotzdem nicht warnten.

Seine komplette Darstellung des Anschlags und der mangelhaften Aufklärung der Terrorserie liest Koçak ab. Nach der Befragung sagt er der taz, dass er mit den Tränen kämpfen müsse, wenn er das alles frei erzähle. Trotzdem schafft Koçak es während seiner Aussage und den anschließenden Nachfragen und Antworten, ruhig und gefasst zu bleiben – auch wenn er darüber spricht, dass die Befragung für ihn retraumatisierend sei und er bis heute schlecht oder gar nicht schlafe. Seinen Alltag habe er nach behördlichen Sicherheitsansprachen wegen der rechten Bedrohungen und ständigen Ängste umgekrempelt. Ebenso gebe es mittlerweile mehrere Sicherheitsvorkehrungen an seinem Elternhaus.

72 rechtsextreme Straftaten zählt die Polizei seit 2016 in Neukölln, darunter 23 Brandstiftungen. Die Taten richteten sich größtenteils gegen politisch Engagierte. Die Opfer engagieren sich zivilgesellschaftlich: in Gewerkschaften, Parteien oder für Geflüchtete. Ein Teil der Taten seit 2016 wird derzeit vor Gericht verhandelt. Darüber hinaus rechnen Ak­ti­vis­t*in­nen auch zwei Mordfälle zur Serie, von denen einer bis heute komplett unaufgeklärt ist.

Ferat Kocak

„Je mehr Hass ich erlebte, umso aktiver wurde ich.“

Naziterror gibt es in Süd-Neukölln allerdings schon deutlich länger. Nach zahlreichen offenen Fragen und Ungereimtheiten hat das Abgeordnetenhaus vor allem nach viel Druck von Betroffenen und antifaschistischen Initiativen sowie anhaltenden Skandalen im Frühjahr den Untersuchungsausschuss Neukölln eingesetzt, um Versäumnisse der Behörden aufzuklären. Zudem soll er sich strukturell mit der Neonazi-Szene Neuköllns und deren überregionalen Verbindungen beschäftigen.

Viele Ungereimtheiten

Die gröbsten Versäumnisse neben der fehlenden Warnung des ausgespähten Opfers Koçak: ein Staatsanwalt, der wegen mutmaßlicher AfD-Nähe vom Fall abgezogen wurde. Ein in unmittelbarer Umgebung lebender Polizist mit AfD-Mitgliedsausweis, der Polizeiinterna auch an einen der Hauptverdächtigen durchgestochen hat. Ein vom Verfassungsschutz beobachtetes Treffen zwischen einem Polizisten und einem der mutmaßlichen Haupttäter. Und viele weitere sich scheibchenweise herausschälende Versäumnisse, Missstände und Ungereimtheiten.

Koçak sagt am Freitag, dass für ihn vor allem vier Fragen entscheidend seien: „Was hat der Staatsanwalt F. gemacht oder nicht gemacht, dass die Aufklärung nicht vorangegangen ist?“ Wie sei der Vorfall in der Kneipe Ostburger Eck zu erklären, wo der Verfassungsschutz einen Hauptverdächtigen im Gespräch mit einem LKA-Beamten gesehen haben soll? Und: „Warum wissen wir trotz Überwachung durch den Verfassungsschutz nicht, was die Hauptverdächtigen in der Tatnacht gemacht haben?“ Und zuletzt: „Warum wurde ich nicht gewarnt?“

Während die Abgeordneten der demokratischen Parteien sich von Koçaks eindrücklichen Schilderungen sichtlich beeindruckt zeigten und respektvoll nachfragten, war dem AfD-Abgeordneten Brousek die Frage nach Koçaks Eltern noch nicht genug Provokation. In der zweiten Fragerunde beantragte der AfD-Politiker sogar noch ein Ordnungsgeld für Koçak, weil dieser Brouseks Frage zu seinen Eltern nicht beantwortet habe.

Dann beschimpft der AfD-Abgeordnete die übrigen Par­la­men­ta­rie­r*in­nen als „Laienschauspielertruppe“ und den Untersuchungsausschuss als „McCarthy-Ausschuss“. Der Ausschuss-Vorsitzende Florian Dörstelmann (SPD) zieht daraufhin das Wort an sich und antwortet Brousek, dass er nicht sehe, dass Koçak gezwungen sei, die Frage nach seinen Eltern zu beantworten, ebenso wenig die Verhängung eines Ordnungsgeldes. Daraufhin verzichtet Brousek beleidigt auf weitere Fragen.

Kritik an mangelnder Öffentlichkeit

Eine Randnotiz bei der Befragung am Freitag dürfte insbesondere den Tä­te­r*in­nen wenig schmecken: Mit ihrem Terror wollten sie mutmaßlich politische Gegner einschüchtern. Bei Koçak, der inzwischen für die Linke im Abgeordnetenhaus sitzt, hat es das Gegenteil bewirkt, wie er am Freitag sagt: „Meine Art, damit umzugehen, war, in die Offensive zu gehen.“ Eigentlich hatte er vor dem Anschlag für sich beschlossen, sich politisch ein bisschen zurückzuziehen, sich mehr auf Privates zu konzentrieren.

Danach aber habe er eine Verantwortung gespürt, die Anschläge in die Öffentlichkeit zu tragen. „Im Prinzip haben die Täter bewirkt, dass ich noch aktiver geworden bin: Je mehr Hass ich erlebte, umso aktiver wurde ich.“

Nach der Befragung sagt Koçak, dass diese anstrengend für ihn gewesen sei. Er finde es schlimm, dass die AfD seine Eltern einladen wolle. „Damit wollen sie mir eins reinwürgen.“ Er habe immer versucht, seine Eltern aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Das Vorgehen zeige, dass die AfD versuche, den Ausschuss zu sabotieren, so Koçak.

Umso dankbarer sei er für Solidarität auf zahlreichen Demos und in Petitionen sowie die Unterstützung von Betroffenenorganisationen wie Reach Out und der mobilen Beratung gegen Rechts, ohne die für ihn vieles schwerer gewesen wäre. Auch am Freitag gab es eine kleine Kundgebung für Aufklärung vor Beginn des Ausschusses.

Anlass dafür war im Vorfeld der Befragung auch erneute Kritik am Prozedere des Untersuchungsausschusses: Zusammen mit weiteren Betroffenen hat Koçak in einem offenen Brief bemängelt, dass der Ausschuss im Berliner Landesparlament nur halb-öffentlich tagt. Unterschrieben haben das Schreiben antifaschistische Aufklärungs-Initiativen, Betroffenenorganisationen, zivilgesellschaftliche Bündnisse sowie nicht zuletzt die Opfer der rechten Terrorserie selbst.

Im Schreiben fordern sie: „Die Öffentlichkeit im Untersuchungsausschuss muss hergestellt werden.“ Wegen der Coronavorschriften dürfen Bür­ge­r*in­nen und Jour­na­lis­t*in­nen den Ausschuss nur über einen Stream in einem anderen Saal des Abgeordnetenhauses verfolgen. So lasse sich nicht das gesamte Geschehen im Befragungsraum beobachten. Das Abgeordnetenhaus verweise auf die Coronaregeln, da nur begrenzte Plätze für den Saal zur Verfügung stünden.

Die Befragten und Betroffenen müssen sich den Abgeordneten alleine stellen; mitbringen dürfen sie nur einen Rechtsbeistand, wird im Brief kritisiert. Der AfD-Abgeordnete Brousek hat am Freitag bewiesen, inwiefern das problematisch sein kann. In dem offenen Brief heißt es: „Nachdem Polizei und Strafverfolgungsbehörden die Betroffenen des rechten Terrors in Neukölln jahrelang allein gelassen hatten, sind diese jetzt gezwungen, sich alleine den Fragen des Ausschusses zu stellen.“

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