Neuwahlen in Berlin: Demokratische Rutschpartie

In Berlin muss wohl die Wahl von Bundestag und Abgeordnetenhaus wiederholt werden. Das könnte massive Folgen haben.

Wahlzettel liegen auf einem Tisch. Ein Mann sortiert sie.

Viel zu viel: Vier Abstimmungszettel an einem Tag – Berliner Wahllokal bei der Bundestagswahl 2021 Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Vor wenigen Tagen liefen Tausende von Menschen in Leibchen durch Berlin – es war Marathon. Mein erster Reflex: Himmel, sie werden doch heute nicht sonst noch etwas Großes veranstalten wollen, Wahlen etwa?

Vor einem Jahr fanden am Tag des Berlin-Marathons Wahlen statt – die Bundestagswahl, die Wahl zum Abgeordnetenhaus (das hiesige Landesparlament) und zu den Bezirks­parlamenten (eine Ebene drunter). Dazu gab’s noch ein Volksbegehren. Dem Marathon hat das nicht geschadet, den Wahlen schon. Deshalb müssen Letztere nun wiederholt werden. So jedenfalls hat es das Berliner Landesverfassungsgericht bei der Verhandlung diese Woche in Aussicht gestellt.

Überrascht schienen davon nicht nur die rot-grün-roten Regierungsparteien zu sein. Nun sind viele Berliner PolitikerInnen wirklich gut darin, Dinge zu ignorieren, die nicht klappen oder nicht klappen könnten. Anders lässt es sich sowieso nicht erklären, dass Wahlleitung und Innenbehörde den Herausforderungen des Wahltags, sagen wir: so gelassen entgegenblickten.

So hatte offenbar niemand gedacht, dass die WählerInnen angesichts der Vielzahl und des Ausmaßes der Wahlzettel in den Kabinen ins Grübeln geraten könnten. Das hatte unter Coronabedingungen zur Folge, dass sich vor den Wahllokalen lange Schlangen bildeten. Außerdem aber gab es zu wenige Wahlzettel – wobei besser von Wahlpapyrusrollen zu sprechen wäre. Um Nachschub zu holen, wurden Boten losgeschickt, doch ach, sie kamen nirgends durch – der Marathon! –, sie kamen zu spät, weshalb mancherorts die Kopierer angeworfen wurden (verboten) und vielerorts die 18-Uhr-Grenze gerissen wurde (auch problematisch).

Geschrumpfte Freude

Meine Freundin war Wahlhelferin und berichtete von kommunikativen Ausschreitungen im Wahllokal. Co-Helferinnen hätten zu entrinnen versucht – Kind allein daheim etc. –, doch der überforderte Wahllokalleiter habe schreiend Bußgelder angedroht. Ihre Wahlhelferinnenfreude dürfte arg geschrumpft sein.

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Zu niedlich, wie nun die PolitikerInnen der rot-rot-grünen Koalition sich gegenseitig dazu aufrufen, es gebe so viel zu tun, man möge bitte nicht sofort in den Wahlkampfmodus verfallen. Die regierende Bürgermeistern Franziska Giffey von der SPD hat im Laufe des Jahres ohnehin schon Federn gelassen.

Doch auch die Linkspartei kann sich ausrechnen, dass die Sache für sie nicht gut ausgeht. Zumal ja auch noch eine Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin droht, worüber freilich die Ampelkoalition entscheidet. Zur Erinnerung: Die Linke sitzt überhaupt nur wegen der Berliner Direktmandate im Bundestag. Werden Berliner Mandate neu vergeben, könnten noch ganz andere Dinge ins Rutschen geraten.

Man möge aus Rücksicht auf die demokratische Gesamtlage nicht zu harsch mit Berliner Umständen ins Gericht gehen, kritisierten WahlanalystInnen diese Woche das Landesverfassungsgericht. Es war eine Variante des Too-big-to-fail-Arguments: Wer jetzt die Wahlen komplett wiederholen lasse, riskiere zu viel – auch, dass die Leute das Wählen nicht mehr ernst nähmen.

Mein Gegenvorschlag wäre, Wahlen so auszurichten, dass man sie auch ernst nehmen kann. Dann klappt das auch mit der Legitimität.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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