Nach links, ohne Gleichschritt

Die jungen Leute, die „ihr Ding“ machen, sind das Potenzial einer neuen Linken, aber nicht einer „Linkspartei“Die Vielfalt an Resistenz muss, gewissermaßen als Bild, repräsentiert werden. Auch wenn es verdammt schwierig ist

VON ROBERT MISIK

Das Unbehagen am Kapitalismus zieht Kreise, schon seit geraumer Zeit. Von Pop bis Film, von Wir sind Helden bis „Die fetten Jahre sind vorbei“ – Gesten des Dagegenseins, eine neue Kultur des Protestes. Spätestens in diesem Frühjahr ist die Kapitalismuskritik auch in der Mitte angekommen. Erst Franz Münteferings Angriff auf die „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“, dann das französische „Non“ zur EU-Verfassung und nun der regelrechte Hype um die neue „Linkspartei“ – all das lässt sich auch als das Symptom eines Mangels lesen. Es gibt in der Bevölkerung weit verbreitete Sentiments, die in der Politik-Politik, also dem, was bei Wahlen zur Debatte steht, nicht repräsentiert sind. Das ist derart unübersehbar, dass jetzt schon die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nicht umhin kam zu konstatieren: „Die Zeit ist reif für neue politische Ideen. Gerade im Moment der größten Ausdehnung und Wirksamkeit der neoliberalen Ideologie mehren sich die Zeichen, dass es den Leuten allmählich damit reicht.“

Das hat mit sozialer Bedrängnis zu tun, aber nicht nur. Gewiss, dass sich die Ackermänner stetige Einkommenszuwächse genehmigen und Massenentlassungen ankündigen, obwohl die Ertragslage golden ist, verletzt elementare Gerechtigkeitsnormen; ebenso wie der Umstand, dass Arbeitslose schikaniert werden, obwohl es für sie keine Jobs gibt, und andererseits die Kapitalertragssteuern immer weiter sinken. Darüber grassiert Empörung: dass Menschen als Kostenfaktoren auf zwei Beinen gelten, so überflüssig wie Waren, die aus der Mode gekommen sind. Aber wer glaubt, dieses Unbehagen habe in erster Linie mit Jobverlust und sozialer Ungerechtigkeit zu tun, der springt zu kurz. Was für schlechte Stimmung sorgt, ist die Kultur der Alternativlosigkeit und der Umstand, dass das Ökonomische über die Ufer dessen tritt, was allgemein und traditionell als „der Markt“ akzeptiert ist. Dagegen gibt es nicht nur Aversion – sondern auch eine Fülle von Verweigerungs- und Ausbruchsstrategien.

Man muss nur gelegentlich mit jungen Leuten sprechen, dann begegnet man überall denjenigen, die recht zielstrebig, aber gleichzeitig auch locker – und das heißt: nie konsequent – versuchen, nicht mitzutun. „Das trifft genau das, wie ich lebe“, sagt etwa eine junge Frau, die ihren Lebensunterhalt mit Jobben in einem neoliberalen Wirtschaftsmagazin bestreitet, ihr „Sinnvakuum“ aber (wenn man das so nennen darf) damit füllt, dass sie für ein freies Radio arbeitet, das über Sozialbewegungen berichtet. Eine 22-Jährige, die studiert, nebenbei beim Arbeitsamt ein Mädchenprojekt betreut und, wenn noch Zeit bleibt, gratis für eine Sozialinitiative Asylbewerbern aus Afrika hilft, sagt, für sie komme „nur ein Beruf in Frage, in dem ich mich für meine Ideale engagieren kann“. Ein erfüllender Beruf „mit begrenztem Einkommen ist mir lieber als ein gut dotierter“.

Wer Tiefeninterviews nachliest, die etwa empirische Sozialforscher machen, oder nur kurz aufmerksam im Internet surft, wird eine Unzahl von Menschen finden, die – wie die 15-jährige Annika – äußern, sie wollten „sinnvoll leben“ und nicht immer nur das tun, „was einem selber nutzt“, oder die junge Sozialhilfeempfängerin und alleinerziehende Mutter, die für sich etwas finden möchte, wo sie „sich ‚ganz‘ einbringen“ könnte, so sein kann, wie sie ist. Da tickt der theoretisch versierte Metropolen-Twen, der auf schräge Sounds steht, auf der Höhe der Diskurse ist und avancierte Filme guckt, nicht sehr viel anders als die H&M-Verkäuferin mit Nabelpiercing, die sich unwohl fühlt, weil sie sich als Repräsentationsfigur der Markenpersönlichkeit ihres Unternehmens durch ihren Arbeitsalltag strampelt.

Wenn man von der „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ spricht, dann ist das also nur die halbe Wahrheit. Dass die Menschen nichts als im Netz zappeln, kann nur behaupten, wer ziemlich blind durch die Welt geht. Eine solche Behauptung muss die ungeheure Kreativität und auch Resistenz ausblenden, die sich an allen Ecken zeigt.

Die jungen Leute, die „ihr Ding“ machen statt immer nur mittun zu wollen, wehren sich gegen die innere Landnahme des postfordistischen, digitalisierten Kapitalismus, doch sie sind gleichzeitig seine Kinder. Die Auflösung der starren Erwerbsbiografien, das tendenzielle Ende der Regelarbeit in Büro und Fabrik, die Erosion der starren sozialen Milieus hat ihnen den Boden bereitet. Sie sind die Produkte des Befreiungsversprechens einer Wirtschaftsweise, in der erst jetzt „alles Ständische und Stehende verdampft“ (Marx, Kommunistisches Manifest), die jedermann anherrscht, seine „Kreativität“ und „Persönlichkeit“ zu entwickeln, und dann bestenfalls unbezahlte Praktikumsstellen zur Verfügung hat.

Sie sind das Potenzial einer neuen Linken, aber nicht einer „Linkspartei“, die am liebsten zum fordistischen Arrangement zurückkehren würde. Denn erstens glaubt niemand, dass eine solche Rückkehr möglich wäre – und außerdem würde es, zweitens, auch kaum jemand wollen. Eine Retro-Linke, die sich mit der Verteidigung von Partikularinteressen der alten Kernmilieus begnügt – „die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner“ (Oskar Lafontaine) –, wird keinen großen Magnetismus haben. Doch wie sähe eine Linke aus, die auf der Höhe der Zeit ist – und was sind die Probleme, sie zu entwickeln?

Die hipperen linken Milieus sind die, die man als die „Kulturlinken“ bezeichnen könnte. Sie legen viel Wert auf eine Kultur der Differenz, dass unterschiedliche Lebensweisen als gleichwertig respektiert werden. Dabei gerät ihnen die Gleichheit und soziale Gerechtigkeit schon mal aus den Augen – das ist, auf der Ebene der Politik-Politik, das Drama der „Grünen“. Die traditionelle, gewerkschaftliche Linke wiederum sieht die chronische Verletzung von Gerechtigkeitsnormen, dass die Optionen- und Risikogesellschaft für die einen Optionen, für sie und ihresgleichen aber vornehmlich Risiken bereithält, und kann nicht verstehen, dass viele Menschen die Auflösung der starren Gehäuse des fordistischen Arrangements auch als Befreiung erleben.

Die nächste Großidee müsste das zusammendenken: das Potenzial an Kreativität, Vielfalt, auch an fröhlicher Dissidenz, das unsere Gesellschaften prägt – ohne den „Polarstern“ (Norberto Bobbio) der Linken, das Streben nach mehr Gleichheit, aus dem Blick zu verlieren.

Es ist eine Unart der politischen Propagandaoffiziere, an dieser Stelle sofort drei, vier „Konzepte“ einzufordern, die man am besten schon morgen in Gesetzesvorhaben gießen könnte. Die stünden natürlich am Ende eines Prozesses, der mit den richtigen Bildern, mit einer glaubwürdigen Rhetorik beginnt. Alles wird schlechter, wir alle sind Marionetten, von unsichtbaren Fäden bewegt, markengeil und konsumversessen? Das ist doch ein bisschen zu schwarz, um wahr zu sein. Eine linke Politik, von Männern in grauen Anzügen im Funktionärsjargon vertreten? Für die werden sich nur die erwärmen, die die Bereitschaft mitbringen, sich deprimieren zu lassen. Die Vielfalt an Resistenz muss auch, gewissermaßen als Bild, repräsentiert werden. Auch wenn es verdammt schwierig ist, diese Vielfalt zu organisieren – man muss doch versuchen, sie wenigstens zu repräsentieren.

Wenn das einmal klar ist, hat es Sinn durchzubuchstabieren, in welche Richtung es in etwa gehen kann. Dann ist es vielleicht gar nicht mehr so schwer, ein paar Ideen zu skizzieren. Man könnte hier an die Konzepte denken, die etwa Wolfgang Engler in seinem Buch „Bürger, ohne Arbeit“ entwirft, oder Richard Layard in „Die glückliche Gesellschaft“. Im Word-Rap: Ein Bürgergeld, das nicht mehr als menschenfreundlicherer Ersatz für die Sozialhilfe gedacht ist, sondern als Existenzsicherung für die vielen, die tätig sind, deren Leben aber prekär ist; ein Umbau der Sozialsysteme, der den veränderten Realitäten Rechnung trägt, dem Umstand, dass Lohneinkommen nicht mehr die völlig überwiegende Form der Einkünfte sind (die Bürgerversicherung geht da schon in die richtige Richtung); mehr Chancen für alle als Generationenaufgabe – Aufwärtsmobilität, die Vermittlung von Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben für alle beginnt heute bei den Dreijährigen und resultiert erst in drei Jahrzehnten in einer egalitäreren Gesellschaft.

Man kann sich da ruhig ein Vorbild an erfolgreichen Gesellschaften nehmen: Die klassenlosesten Gesellschaften der Welt sind die skandinavischen, wo die Steuern hoch sind, die öffentlichen Schulen ausgezeichnet arbeiten und die Kultur durch gegenseitigen Respekt gekennzeichnet ist. Dann könnten sogar Arbeitsmarktreformen à la Hartz positive Effekte zeigen: Wenn sie sich nicht darauf beschränken, die Verlierer noch zu verhöhnen, sondern wenn das Spektrum der Möglichkeiten für die heute Unterprivilegierten erweitert wird (wie das selbst die britische Labour Party vormachte).

Mehr Varianten für ein sinnvolles Leben von so vielen wie möglich, in einer Gesellschaft, die nicht in Gewinner und Verlierer zerfällt, sondern deren Mitglieder sich auf Augenhöhe begegnen: daraus muss doch eine Idee montierbar sein, für die man sich wieder begeistern kann.