Vorsicht, Juckalarm!

Kopfläuse bringen ihre Opfer in schlechten Ruf. Dabei ist ihnen menschliche Hygiene gleichgültig. Hauptsache, sie können alle zwei Stunden Blut trinken. An Schulen werden sie gern ignoriert – und so zum Problem

von CORNELIA KURTH

Es juckt, wenn sie einen auserwählt haben. Es juckt sehr. Anfangs noch so, wie wenn man an einem heißen Tag den Rasen gemäht hat und sich, verstaubt und verschwitzt, im Nacken und hinter den Ohren kratzen muss. Später erinnert der Juckreiz an Mückenstiche, die einfach keine Ruhe geben.

Als mein elfjähriger Sohn Linus sich nach einer Woche immer noch kratzte, vermutete ich einen Ausschlag. Läuse hatten bisher immer nur die anderen gehabt. Erst nachdem auch ich begann, unter dem rätselhaften Kopfjucken zu leiden, stieg in mir der Verdacht auf, dass unsere Schonzeit vor den Läusen vorbei sei. Ich meinte deutlich zu spüren, wie es zwischen meinen Haaren kribbelte und krabbelte. Und nun war es auch kein Problem mehr, im Schopf des eilig herbeigerufenen Kindes mit bloßen Augen etwas sesamkorngroßes Hellbraunes sich bewegen zu sehen. Hier! Und da!! Und dort!!! Die Tierchen hatten ja reichlich Zeit gehabt, sich zu vermehren.

Was für ein seltsames Erlebnis, in der Apotheke neben den anderen Kunden zu stehen, zwei Fläschchen Anti-Läuse-Mittel zu verlangen und sich dabei möglichst nicht am Kopf zu kratzen. „Läusebefall hat nichts mit mangelnder Hygiene zu tun“, sagt der Apotheker überfreundlich und reicht auch gleich einen Plastik-Nissenkamm über den Tresen, dessen enge Zinken Läuse und Nissen aus dem Haar fischen sollen. „Am besten, Sie waschen alle in der letzten Zeit getragene Wäsche bei mindestens 60 Grad. Und alle Handtücher. Und die Bettwäsche. Die Jacken auch und auch die Kuscheltiere. Was nicht so heiß gewaschen werden kann, muss vier Wochen in einem abgeschnürten Plastiksack lagern. Oder ab in die Tiefkühltruhe.“ Das kann doch nicht wahr sein! (Ist es auch nicht! Dazu später.)

Linus hat zu Hause auf mich gewartet, denn an diesem Tag schickte ich ihn lieber nicht in die Schule. Ich bewunderte seine Ungerührtheit über die Tatsache, dass sein Kopf einer Horde Läuse als Domizil diente, die alle zwei Stunden eine Blutmahlzeit zu nehmen geruhen und in ähnlichem Abstand ihre Fäkalien von sich geben, von geschlechtlichen Aktivitäten ganz zu schweigen. Mit der sehr medizinisch riechenden „Goldgeist“-Anti-Läuse-Tinktur im Haar verbrachte er die halbe Stunde Wartezeit mit fröhlich schulfreiem Magic-Kartenspiel, während ich, ebenfalls mit Goldgeist behandelt, im Internet auf der Suche nach Informationen und Trost einen faszinierenden Läusetrailer entdeckte, ein sekundenkurzes Filmchen, das eine Laus zeigt, wie sie durchs Haar klettert. „Mit ihren sechs Greifklauen klemmt sie sich an den einzelnen Haaren fest, schwingt sich von einem zum anderen und turnt, athletisch wie ein Turner am Doppelbarren, in ihnen herum …“ Die Läuse auf meinem Goldgeist-Kopf kämpften derweil ihren Todeskampf. Beinahe taten sie mir Leid.

Wir spülten die Haare aus, wir kämmten die Strähnen mit dem Nissenkamm durch und zählten 25 tote Läuse für Linus, 5 für mich (je eher man handelt, desto besser!). Und wir dachten, wir hätten alles überstanden. Das Jucken hörte schlagartig auf, das Kind ging wieder zur Schule, nicht ohne dass ich, wie vom Infektionsschutzgesetz gefordert, „der Gemeinschaftseinrichtung Mitteilung über einen beobachteten Kopflausbefall“ gemacht hatte. In Plastiktüten lagerte Kleidung mit eventuell vorhandenen, hungernden Läusen; sämtliche andere Wäsche war gewaschen. Manchmal noch ahmten wir lachend das so genannte „Stechsaugen“ der Tierchen nach.

Woher waren die Läuse gekommen? Und hatten wir jemand angesteckt? Weder das eine noch das andere war mit Sicherheit in Erfahrung zu bringen. Linus’ bester Freund hat drei Geschwister. Mindestens einmal im Jahr hat eines der Kinder die Läuse, sagt die Mutter. Mein kleiner Kindergarten-Neffe aus Berlin war ebenfalls betroffen. Vielleicht war beim letzten Besuch eine Laus von ihm zu Linus oder umgekehrt gekrabbelt?

Tatsache ist, dass keine offizielle Stelle sich für unsere Läuse interessierte. Die Ärztin, von der ich das Rezept für Linus’ Läusemittel erhielt, gab die Bescheinigung über Läusefreiheit gleich ungeprüft dazu. Sie hätte es auch ganz lassen können, denn nie wollte jemand diese Bescheinigung sehen. In Linus’ Klasse fiel kein Wort über Läuse, geschweige dass – wie es die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt – Informationsblätter an die Eltern ausgegeben worden wären, damit eventuelle Ansteckungsfälle schnell entdeckt und eingedämmt würden. Auch das Gesundheitsamt erfuhr nichts, obwohl eigentlich eine solche Informationspflicht seitens der Schulen besteht. „Das macht niemand mehr, seitdem die sowieso keine Mitarbeiter zur Kontrolle mehr schicken“, so einer der örtlichen Grundschulleiter, dessen Name um Gottes willen nicht in Zusammenhang mit Läusen genannt werden soll. Und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung postuliert im Ton größter Gewissheit: „Läuse werden weder durch wiederholte Untersuchungen noch durch Empfehlungen des Gesundheitsamtes besiegt, sondern nur durch die Eltern (und das pädagogische Personal) selbst.“

Komisch nur, dass Läuse in den 80er-und 90er-Jahren fast so selten geworden waren wie Loriots berühmte „Steinlaus“, so lange nämlich, wie geschulte Gesundheitsamt-Mitarbeiter in die Schulen kamen und jedes Kind überprüften, sobald Läusealarm bestand. Seitdem solche Kontrollen aber vor etwa zehn Jahren eingestellt wurden, trumpfen die Läuse wieder auf. In den Apotheken werden seit mindestens fünf Jahren mehr Läusekuren denn je verkauft, und während Läuse früher hauptsächlich nach den Sommerferien auftraten, haben sie inzwischen ganzjährig Saison.

Linus kratzt sich schon wieder. Seit Tagen. Ich kann es nicht länger ignorieren. Soll alles wieder von vorne beginnen? Das Gift auf der Kopfhaut? Das Wäschewaschen? Die Läuse-Hungertüte?

Hunderte Seiten über Kopfläuse und ihre Behandlung gibt es im Internet, aber nun erst sehe ich, wie viel unsinnige Ratschläge dort gegeben werden, nicht zuletzt von den Apotheken, die auf ihren Homepages Ratsuchende zur Verzweiflung treiben mit all dem Wäschewaschen bei 60 Grad und Kuscheltiere-Einfrieren und Luftdicht-Verpacken. Die Läuse sterben doch spätestens nach 48 Stunden ohne Nahrung. Was also soll die wochenlange Tütenquarantäne? Läuselarven, die zehn Tage nach Eiablage schlüpfen, brauchen sogar innerhalb der ersten Stunde eine Blutmahlzeit, sonst sterben sie. Es wäre schon ein blöder Zufall, wenn an einem ausgefallenen Haar eine Nisse klebt, deren Bewohnerin zufällig zu einem Zeitpunkt schlüpft, da es ihr gelingen kann, aus dem Wäschekorb oder vom Kuscheltier irgendwie auf einen Kopf zu gelangen. Läuse sind getrennt vom Wirt praktisch nicht überlebensfähig!

Umso wichtiger, dass sie vom Wirt auch wirklich getrennt werden. Eine wunderbar gelassene Läuse-Website ist www.kopflaus.ch. Dort betont die junge Schweizer Biologin Sandra Leonhardt, dass Läuse fast ausschließlich direkt von Kopf zu Kopf wechseln. Auch die Nissen müssen vom Läuseweibchen höchstpersönlich ans Haar geklebt werden. In dem ausdruckbaren Merkblatt wird nicht auf panische Wohnungssäuberung gesetzt (gerade diese Elternpanik ist es, vor der die Schulen Angst haben und weshalb sie oft hoffen, dass jeder sein Läuseproblem mit sich allein abmacht) und auch nicht auf wiederholte Giftattacken, sondern auf eine Untersuchungsmethode mit Haarspülung und Nissenkamm, bei der verhindert wird, dass durch giftresistente Nissen, wie wohl bei Linus, der Kreislauf erneut beginnt.

Dazu schäumt man das nasse Haar mit ganz normaler Haarspülung ein und kann dann mit dem Nissenkamm, ohne dass es ziept, alle Strähnen durchkämmen. Den Schaum klopft man im Waschbecken aus dem Kamm, und siehe da, auf dem weißen Porzellan: eine Laus! Sie hatte, lahm gelegt von der Haarspülung, nicht entfliehen können. „Rache ist süß!“, sagt Linus und spuckt auf den Quälgeist, bevor ein Wasserstrahl ihn in den Ausguss schwemmt. Fünfzehn Läuse wurden erwischt. Zwei Tage später noch mal drei, und als schließlich nach der vorgeschriebenen letzten Prüfung am zehnten Tag (so lange braucht ein Ei, bis eine Laus ausschlüpft), kein Läuschen auszuklopfen war, spürten wir beide eine kleine Enttäuschung.

Übrig blieben leere Nissenhüllen, die so fest mit dem Haar verklebt waren, dass ich sie selbst mit Essigwasser nicht losbekam, sondern nach und nach einfach herausschnitt. Wir sind wieder frei! Bis zum nächsten Mal …

CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln