Schnitzeljagd im Labyrinth

Quer durch Länder, Zeiten und Kulturen: Marc Höpfners Roman „Trojaspiel“

VON SEBASTIAN DOMSCH

Marc Höpfner hat sich Zeit gelassen für „Trojaspiel“, seinen zweiten Roman, und das ist gut so. Denn so ist ein facettenreiches Buch entstanden, das trotz seiner Dickleibigkeit von über fünfhundert Seiten fast immer prall gefüllt wirkt. Vier Jahre ist es her, dass Höpfner mit seinem Debütroman „Pumpgun“ den viel diskutierten Roman zu den mittlerweile auch in Deutschland vorgekommenen Schulamokläufen lieferte. Das war damals ein brandheißes Eisen, in Windeseile literarisch geschmiedet und noch warm auf dem Buchmarkt serviert. Kaum jemand hätte danach wohl erwartet, dass Höpfner seine Leser im Prolog zum nächsten Roman erst einmal in ein Dreigroschenräuberstetl im Odessa der Jahrhundertwende schicken würde (der vorletzten, wohlgemerkt). Genau so aber beginnt „Trojaspiel“: mit dem „Wunder der Geburt“ in der hinterletzten Wohnung einer schäbigen Mietskaserne, unter Beihilfe einer heruntergekommenen Hebamme, benebelt vom Ammoniak, mit dem sie eigentlich ihren Mann hatte ein bisschen vergiften wollen. So fangen wahrhaft epische Geschichten an.

Vier Jahre sind eine lange Zeit, und doch wäre es besser gewesen, Höpfner hätte sich sogar noch mehr davon genommen. Denn das, was er errichten will, ist ein Labyrinth, und so etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Der chinesische Gouverneur Ts’ui Pên aus Jorge Luis Borges’ Geschichte „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“, die neben dem titelgebenden kultischen Spiel die geistige Matrix von Höpfners Roman sein könnte, schloss sich dreizehn Jahre im Pavillon der Lauteren Einsamkeit ein, um seinen Roman und sein Labyrinth, die identisch miteinander waren, zu schaffen.

Höpfner möchte etwas Ähnliches wie die Figur von Borges, er schreibt über Labyrinthe und er schreibt selbst ein Labyrinth, eine groß angelegte Schnitzeljagd quer durch Länder, Zeiten und Kulturen. Der Minotaurus im Zentrum ist ein mysteriöser, singulär begabter Baumeister mit den Initialen T. L., der in verschiedenen Teilen der Welt seine Schöpfungen hinterlassen hat: dreidimensionale, die menschliche Vorstellungskraft sprengende Labyrinthe. Manche von ihnen sind Karten tatsächlicher Irrgärten, andere Konstruktionszeichnungen oder ein Holzmodell. In New York aber hat T. L. seinen Traum verwirklicht und die obere Hälfte eines alten Hotelgebäudes nach seinen Prinzipien umgestaltet.

Mahgourian, der jetzige Besitzer, ist ein steinreicher, greiser Immobilienhändler, der den bewohnbaren Teil des Hotels in ein philanthropisches Wohnheim für Künstler und andere vom Leben geschädigte Existenzen umgewandelt hat. Von hier aus, vom Rätsel des so sinnlos erscheinenden Bauwerks, nimmt die Spurensuche ihren Anfang. Mahgourian ist besessen von der Geschichte des Baumeisters und arbeitet sich, dem roten Faden kleinster Hinweise folgend, rückwärts dem Ursprung dieses bewegten Lebens entgegen.

Damit aber Maghourian dem Leser ebenso undurchschaubar bleibt wie das Ziel seiner Suche, lässt Höpfner die Geschichte von Tonio Ludwig erzählen, einem zeitweiligen Bewohner des Hotels, dessen Leben sich bereits einmal mit den Spuren von T. L. gekreuzt hat. Tonio begibt sich mit dem Alten auf die Reise, unbegründeterweise begleitet von zwei weiteren Schützlingen Mahgourians, der zur Magersucht neigenden, introvertierten Laura und dem durchgeknallten Schwarzafrikaner Zacharias, den der Icherzähler „Der Professor“ nennt, weil er gerne auf den Straßen Manhattans Ansprachen hält.

Eine bunte Truppe macht sich da auf den Weg, doch Höpfner weiß mit ihr nicht viel anzufangen. Die Begleiter Mahgourians, und dazu gehört unglücklicherweise auch der Icherzähler des Romans, gewinnen kaum an Volumen. Sie bleiben Konstrukte, die je nach Laune des Autors in dieses oder jenes Gefühl ausbrechen, etwas tun oder lassen, ohne dass sie uns deswegen näher kommen. Wir verstehen nicht immer, was das soll, aber es ist uns auch kein Rätsel wie Mahgourian und der Baumeister selbst. Man wird diese Ebene der Geschichte daher recht bald leid und freut sich auf die eingestreuten Erzählpassagen, die immer tiefer ins Labyrinth führen.

Die Informationshappen, die Mahgourian und seine Gehilfen zusammentragen, verdichten sich nämlich zu Geschichten aus dem Leben des Baumeisters, deren Erzähler nicht genau bestimmt ist. Es könnte der Alte selbst sein, der das Recherchierte fantasievoll ausmalt, oder ein auktorialer Erzähler, der uns einen Blick auf die wahren Ereignisse werfen lässt. Manchmal sind es auch andere Personen, die ihren Teil zur Geschichte beitragen. Diese Unbestimmtheit ist sehr reizvoll, denn sie verbindet den reinen Genuss der spannend und farbenfroh erzählten epischen Passagen mit dem raffinierten literarischen Verwirrspiel der Romankonstruktion.

So ist die in die zweite Hälfte des Romans und damit nahe am Zentrum des Labyrinths eingelagerte Geschichte von der Jugend des Baumeisters in Odessa der Höhepunkt und stärkste Teil des Romans. Hier, in der historischen Theaterkulisse, gelingt Höpfner, was auf der Gegenwartsebene teilweise auf der Strecke bleibt: überzeugende Figurenzeichnung und eine spannende Geschichte, die bis zu ihrem Ende von der Frage vorangetrieben wird, ob sich im Zentrum des Labyrinths nun ein Monster oder ein Mensch verbirgt.

Marc Höpfner: „Trojaspiel“. FVA, Frankfurt/Main 2005, 538 Seiten, 24 Euro