Nichts ist Zufall

PARTYNACHT In der „Horse Meat Disco“ im Eagle in Südlondon lässt man sich dankbar durch den Disco-Punk von damals führen

Vor dem Eagle tanzt ein Dutzend Männer. Sie haben ihre verschwitzten Oberkörper entblößt und kühlen ihre Glieder. Es ist drei Uhr am Montagmorgen. Ein vorbeirauschender Linienbus bringt die ersten Londoner zur Arbeit. Verächtlich starren sie durch die Busfenster auf jene, die es sich herausnehmen zu feiern, während der Rest der Stadt in den Alltag muss. Verdammte Hedonisten. Vauxhall, der Stadtteil südlich der Themse, ist legendär für seine hart feiernden Partytiere.

Und doch sind die Sonntage im Eagle anders. Keine steilen Rave-Nächte wie in den benachbarten Gay-Clubs. Zwar schlägt einem auch hier bereits beim Eintreten in die dunkle Pub-Höhle Schweiß, Testosteron und Körperkult entgegen, unterlegt mit Discobeats. An der Wand hängt ein Bild des Ferrari-Hengstes, mit gigantischem Penis. Doch will man im Eagle keine Gloria-Gaynor-Hits hören. Kein „I will survive“, kein „Hot Stuff“ von Donna Summer.

Wer sonntags in die „Horse Meat Disco“ geht, holt sich etwas zurück. Einen Moment, den man vielleicht selbst aus den Achtzigern kennt und die vergangenen Jahre vermisst hat: tanzen und loslassen zu Disco-Punk. Hier mischt sich die Maskerade mit Nachbarschaft, Queerlook mit Anarchokutte, Hüftlange Heavy-Matten mit auf Hochglanz polierten Glatzen. Der heterosexuelle Jamaikaner, der zu Laura Greenes „Manhatten“ lässig wippend seine Alltagssorgen zurücklässt, steht zufrieden neben zarten Modestudenten mit Knutschflecken, die sich extra aus dem coolen Osten der Stadt aufgemacht haben und sekündlich ihren Look überprüfen.

Ein Motorradfan mit Stiernacken trägt ein Shirt mit der Nietenaufschrift „Prisoner of Love“ und zitiert mit seiner Optik die schönen Lederbiker in Kenneth Angers „Scorpio Rising“. Zwischen den Whiskey- und Campariflaschen an der Bar läuft auf einem alten Fernseher John Waters’ Horror-Anarcho-Komödie „Female Trouble“ mit Divine.

Diese Gleichzeitigkeit der Stile und Individuen wirkt wie ein grotesker Zufall. Dabei ist nichts an den „Horse Meat Disco“-Nächten Zufall. Alles, was man auf den wenigen Quadratmetern des Eagle sieht und hört, ist eine sorgfältige Hommage an diese Stimmung der Discoszene von damals.

Auf der kleinen Tribüne beherrscht jemand in hautengem Fahrradanzug zu Fern Kinneys „Love Me Tonight“ eine anspruchsvolle Fußtechnik, daneben stampft ein Mädchen in einem interessanten Charleston-Fransenfummel. In den vergangenen Stunden hat man tatsächlich keine Hits wahrgenommen, und genau darin, im Zelebrieren der unentdeckten, doch grandiosen B-Seiten-Nummern, liegt der größte Spaß, der Zauber dieser Nacht. Statt betrunken mitzugrölen, lässt man sich dankbar führen durch eine große Unbekannte, eine Endlosnummer aus sexy-arrogantem Funk, ein bisschen Punk, Detroit House oder linkischen Disconummern. Hier knistert noch die Nadel über das Vinyl. Es herrscht großer Disco-Eskapismus, Hysterie und Drama. Draußen vor der Tür fegt der scharfe Wind der Krise. JULIA GROSSE