Chaos für 49,90 Euro

Bis Ende des Monats will die Supermarktkette Lidl im Sonderangebot Fahrkarten der Bahn anbieten. Schon gestern war der Ansturm der Verbraucher gewaltig – der Protest der Verbraucherschützer auch

40 Meter lange Schlangen schon morgens um halb acht, Frühstück vor dem Supermarkt – und trotzdem haben tausende kein Glück. Das Superbahnfahr-Angebot. Eine Blanko-Hin-und-Rückfahrt für 49,90 Euro, einzulösen bis zum 3. Oktober, war in vielen Lidl-Märkten schon nach Minuten ausverkauft. Die einzige Erinnerung: eine traurige Unterschriftenliste, die ein bisschen an die Sammeltische von Tierschutzvereinen denken lässt, auf der aber die Enttäuschten ihre Adresse hinterlassen sollen, damit ihnen ein guter Lidl-Geist eines Tages doch noch ein Ticket zuschicke. Ob das jemals geschehen wird, da können auch die Verkäuferinnen nur hilflos mit den Schultern zucken.

In einer Supermarktfiliale in Flensburg wollte sich eine Kundin damit nicht abfinden. Man könne ja auch gerichtliche Schritte einleiten, deutete sie dem Filialleiter an – und prompt hatte sie doch noch eins der begehrten 520.000 Heftchen in der Hand.

Der Mann hatte sich wohl des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb erinnert. Wenn ein Händler ein Sonderangebot macht und entsprechend bewirbt, so die Vorschrift, muss er das Produkt in der Regel für mindestens zwei Tage vorrätig haben. Lidl hätte seine Bahnfahrkarten sogar bis zum 28. Mai verkaufen müssen, sagt Susanne Nowara, von der Verbraucherzentrale in Berlin, „weil Lidl selbst diesen Zeitraum angegeben hat“.

Eine Abmahnung soll das Unternehmen nun erhalten, so die Juristin, am besten vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Damit wird das Unternehmen aufgefordert, vertraglich zu garantieren, dass zukünftige Aktionen besser geplant werden und ein ähnlicher frühzeitiger Ausverkauf nicht mehr vorkommt. Falls Lidl diese Unterschrift verweigern sollte, müsste die Kette mit einer Unterlassungsklage rechnen.

Denen, die sich heute umsonst die Beine in den Bauch gestanden haben, nützt’s wenig. Der Zug ist sozusagen abgefahren, Nachschub gibt’s keinen, ließ die Deutsche Bahn verlauten. „Das ist schließlich ein Sonderangebot“, sagt Burkhard Ahlert, Sprecher für Berlin und Brandenburg.

Man bemühe sich, alle Kundenwünsche zu erfüllen, lässt Lidl derweil verlautbaren. Doch der einzige Wunsch der Kunden ist es, die bestellten Tickets zu bekommen. Wie man den wohl erfüllen will, wenn die Bahn nichts mehr rausrückt? Mehr könne man dazu nicht sagen, sagt ein Unternehmenssprecher.

Fehlplanung will man sich nicht vorwerfen lassen, genauso wenig wie bei der Bahn: „Das war jetzt das erste Angebot dieser Art“, sagt Sprecher Ahlert.

Letztlich muss der, der noch billig mitfahren will, davor wahrscheinlich noch im Internet vorbeischauen. Denn kaum bezahlt, standen hunderte von Karten auch schon bei Ebay im Angebot. Beschwörungsversuche an das Internetauktionshaus, diesen Handel doch bitte zu unterbinden, blieben ungehört – gestern Nachmittag lag der Kurs bei rund 90 Euro.

Doch trotz all des Getöses, der gestrige Donnerstag wird in der Geschichte des deutschen Einzelhandelsgeschichte allenfalls eine Fußnote wert sein. Tumultartige Szenen an der Kasse, schreiende, weil leer ausgegangene Kunden, ja sogar Prügeleien vor Aldi-Märkten gehören offenbar schon zur deutschen Einkaufskultur.

Denn der deutsche Einzelhandel befindet sich im Dumping-Rausch: Versicherungen, Reisen, Fertighäuser, ein Hochzeitscatering, Kleinwagen– es gibt fast nichts mehr, was deutsche Supermärkte nicht schon mal im Angebot gehabt hätten.

Die Preise liegen weit unter denen der Fachhändler, weil die Waren standarisiert sind, und weil die Produzenten auf neue Kunden hoffen und sich ganz nebenbei von übrig gebliebenen Kontingenten trennen können. Beratung gibt’s natürlich keine, „Dafür laufen die Leute dann zu den Fachhändlern“, sagt Christian Fronczak, Sprecher vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Kein fairer Deal, fügt er hinzu und fordert fromm mehr Verantwortungsbewusstsein.

Doch das scheint sich an solchen Tagen wie gestern niemand leisten zu wollen. Wenn das Ticket von Berlin nach Kassel und zurück plötzlich 50 statt 140 Euro kostet, sind auch schnell die alarmierenden Nachrichten der letzten Monate vergessen. Von durchsuchten Spinden, unbezahlter Mehrarbeit und unterdrückten Betriebsräten war da die Rede – detailliert aufgezählt in einem Schwarzbuch, in Auftrag gegeben von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. Alles vergessen?

Ausgerechnet dieser Tage spricht niemand mehr von dem Druck, dem die Mitarbeiter bei Lidl ausgesetzt sind. Jetzt sind es unzufriedene Kunden, die den Druck verdoppeln. ANNE SEITH