DIEDRICH DIEDERICHSEN SPÄTER MEHR
: Seelenqualen von Speerwerferinnen

Trotz der Verbreitung von Reality- und Selbstdarstellungsformaten sind es immer noch die Sportler, die sich am häufigsten in der misslichen Lage befinden, etwas erklären, ja ausfüllen, verkörpern zu müssen, das sie weder darstellen noch erklären können. Die über die Maßen objektive, einwandfrei gemessene Leistung und die Person, die sie erbracht hat, stehen einfach in keinem evidenten Zusammenhang. Das Erbringen dieser Leistung ist ein derart komplexer, aber auch technokratischer, nur zu einem kleinen Teil von den bewussten Absichten und der Persönlichkeit des Sportlers verursachter Prozess, den ein persönlicher Auftritt vor narrativ verseuchten Kameras nimmer vertreten kann; am wenigsten im Fernsehen.

Natürlich ist der menschliche Hintergrund der Leistung nicht bei allen Sportarten in gleichem Maße opak. Zumindest die Akte des Abrufens der Leistung sind bei Leichtathleten nicht so undurchschaubar wie etwa bei Radfahrern. Man sieht sie gelegentlich, wie sie psychisch auf sich Einfluss nehmend um ihr Sportgerät herumschleichen, wie sie sich pushen, wenn es an den Startblock geht. Auch häufig gesehene, durch Dauerpräsenz vertraute Gestalten, wie Bundesligaprofis oder der im Winter unvermeidliche Ole Einar Björndalen, vermögen eher nachvollziehbare Hinweise auf die wichtigste Frage der öffentlichen Sportlerverfolgung zu geben: wie sie gerade drauf sind.

Und weil das auch unser wichtigstes Thema ist, wie wir drauf sind und wie es kommt, dass wir so drauf sind, wie wir drauf sind, schauen wir uns diese Lehrstücke, diese Komödien und Tragödien übers Draufkommen und Draufsein, über das punktgenaue Abrufen von Leistung und der nötigen Coolness, ja unnervösen Stumpfheit so wahnsinnig gerne im Fernsehen an. Doch hat dieses Genre mit immer mehr Dopingfällen eine neue Dimension bekommen. Wie einst die Ehegeschichte durch eine psychologisch informierte Literatur, etwa den paranoiden Generalverdacht bei August Strindberg, an Schärfe und Brisanz gewonnen, so hat diese neue Dimension des Sports – Lüge, Täuschung, Verdacht, Vorverurteilung – die Sportberichterstattung in wenigen Jahren von der positivistischen Listen-, Fakten- und Tabellenhuberei in den Strudel abgründiger dramatischer Dichtungen gestürzt. Von brühwarmen Bekenntnissen bis zu kalten Court-Room-Dramen erweiterte sich die Palette öffentlicher Sportlerauftritte. Plötzlich gibt es etwas zu erzählen.

Nun sind nicht mehr die Sportarten, wo man als Betrachter noch ein bisschen Innenleben erhaschen kann – Einsamkeiten von Langstreckenläufern oder Seelenqualen von Speerwerferinnen –, die interessantesten, sondern die, wo der Abgrund am tiefsten ist, die Wette am riskantesten, der zu verlierende Ruf am strahlendsten. Selbst ein absoluter Drögemöller wie „Klödi“ Klöden ist in den letzten Jahren zu einem Mann mit Mysterium gereift. Der aktuelle Fall Pechstein scheint einerseits zu bestätigen, was man ihr immer zugetraut hat: War die nicht schon immer von Ehrgeiz zerfressen? Andererseits: Widerspricht nicht gerade die solide Spießigkeit des Ehrgeizes einer ausgeklügelten Dopingstrategie? Wie alle vermeintlichen oder echten Dopingsünder gewinnt auch die Pechstein enorm durch ihren Fall.

Was aber für diese gesteigert voyeuristische Perspektive nie zurückkehren darf, ist die alte Eindeutigkeit. Weder könnte uns sogenannter sauberer Sport (und dessen Ideologie) heute noch unterhalten, noch wäre der totale Zynismus attraktiv. Auch der würde dem Sport seine frisch gewonnene Doppelbödigkeit mit allen literarischen Möglichkeiten wieder nehmen. Sport ist indes immer noch nicht nur Fiktion: er wird real von echten Menschen gelebt. Die andere Seite der Doppelbödigkeit aus der Perspektive der Sportler ist vermutlich der pure Horror. Permanent müssen die gleichzeitig Werte aus dem Biedermeier verkörpern und sich einer hypereffizienten neoliberalen Körperzurichtung unterwerfen. Was Zuschauer an dieser Zwangslage gerne beobachten, neben der fiesen Freude am Elend der Prominenten und Exponierten, hat dann doch mit Identifikation zu tun: Man kennt diese widersprüchliche Anrufung, einerseits das wahre Selbst und andererseits Effizienz und Disziplin zeigen zu sollen, vom eigenen Arbeitsplatz. Und man kennt das dazugehörige in Überwachung übergehende Interesse am Privaten, als Täter wie als Opfer.

■ Der Autor ist Poptheoretiker und Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien