In Familienhöllen

Das wirkliche Leben innerhalb einer literarischen Reality-Show: Stewart O’Nans neuer Roman „Abschied von Chautauqua“

VON MARION LÜHE

Tolstois berühmter Satz, alle glücklichen Familien glichen einander, jede unglückliche Familie aber sei auf ihre eigene Weise unglücklich, könnte Stewart O’Nans neuem Roman „Abschied von Chautauqua“ als Motto dienen. Auf den ersten Blick sind die Maxwells eine ganz normale amerikanische Familie: die erst kürzlich verwitwete Großmutter Emily, die nach dem Tod ihres Mannes Henry lernt, alleine zurechtzukommen; Sohn Ken samt Frau und Kindern; Tochter Meg, von ihrem Mann getrennt, ebenfalls mit zwei Kindern; die einzelgängerische Großtante Arlene; sowie der alte Cockerspaniel Rufus, dem allmählich die Puste ausgeht. Alle Jahre wieder verbringen sie zusammen eine Woche in ihrem Sommerhaus in Chautauqua im Staate New York nahe der kanadischen Grenze. Man liegt am Strand, badet im See oder fährt mit dem Motorboot hinaus; man grillt auf der Veranda, spielt Karten oder räkelt sich gemeinsam vor dem Fernseher. Alles in allem eine glückliche Familie also.

Doch das Unglück steckt im Detail. Es ist der letzte Sommer, den die Maxwells in Chautauqua verbringen, denn Emily hat beschlossen, das Haus zu verkaufen. Gegen den Willen der Kinder und der Schwägerin, die an dem alten, vor Nippes überquellenden Haus hängen, aber nicht bereit sind, sich darum zu kümmern. Schon bei der Ankunft der Familienmitglieder sind die unterschwelligen Spannungen spürbar. Je weiter die Woche fortschreitet, desto deutlicher treten uralte Enttäuschungen und Verletzungen zutage, über die das oberflächliche Geplauder kaum hinwegzutäuschen vermag. Bei den nichtigsten Anlässen lodert das Feuer jahrzehntelang angestauten Hasses kurz auf, um sogleich wieder unter einer dicken Schicht von Banalitäten erstickt zu werden. Jeder versucht auf seine eigene Weise der „erzwungenen Intimität des Sommerhauses“ zu entfliehen.

Während Meg, das trotz ihrer dreiundvierzig Jahre nie erwachsen gewordene Sorgenkind der Familie, sich jeden Abend bekifft, sucht ihr jüngerer Bruder Ken, ein gescheiterter Fotograf, seine Umgebung geradezu zwanghaft nach künstlerischen Motiven ab. Seine genervte Frau Lise nimmt Zuflucht zu ihrem Harry-Potter-Roman, die gegenwartsüberdrüssige Emily wie auch Arlene hingegen schwelgen in nostalgischer Erinnerung an vergangene Zeiten. Die zwölfjährige Ella, das hässliche Entlein der Familie, versinkt in der Betrachtung ihrer schönen Cousine Sarah, zu der sie sich erotisch hingezogen fühlt. Derweil tauchen die beiden Jungs in verborgene Game-Boy-Welten ab, aus denen nur die Ermahnungen der Erwachsenen sie herausreißen.

Wie schon in früheren Romanen wie etwa seinem Erstling „Engel im Schnee“ oder dem gefloppten Doku-Roman „Der Zirkusbrand“ bedient sich der enorm fleißige Romanschreiber Stewart O’Nan in „Abschied von Chautauqua“ perfekt der Technik des Perspektivwechsels. Mit feinem psychologischen Gespür versetzt er sich in die Köpfe seiner Figuren, ob es sich dabei um eine wehmütige alte Frau oder einen frustrierten Familienvater, ein pubertierendes Mädchen oder einen von Angst und Schuldgefühlen geplagten Zehnjährigen handelt. Aus immer neuem Blickwinkel beleuchtet er die Familienhölle der Maxwells. Jede Sichtweise wird sofort durch diejenige eines anderen relativiert und erzeugt so den Anschein von Objektivität – ein Verfahren, das O’Nan auf die Spitze treibt, indem er einmal sogar den Hund zu Wort kommen lässt. In allen Räumen des Sommerhauses scheint eine Kamera installiert, die jeden Teppichfussel, jeden Pickel, jeden noch so banalen oder hässlichen Gedanken seiner Protoganisten festhält.

Diese literarische Reality-Show könnte rasch ermüden. Doch O’Nan gelingt es auf subtile Weise, eine Atmosphäre permanenter Bedrohung zu erzeugen, die den Leser gefangen nimmt und ihn schon früh das Schlimmste befürchten lässt. Denn die Idylle des Ferienortes trügt. Überall lauern Zeichen des Verfalls: verrostete Schilder, geschlossene Bars und von Rentnern überschwemmte Restaurants, Schrotthaufen, tote Tiere am Straßenrand, und das Wasser in der Dusche stinkt nach Schwefel. Die Hintergrundmusik liefert die Alarmanlage der Nachbarn, die ständig scheinbar ohne Grund losgeht. Der Entführungsfall einer jungen Tankstellenkassiererin, dessen Zeuge Ken unfreiwillig wird, beschäftigt seine Fantasie – zum Verdruss der eifersüchtigen Ehefrau Lise – über alle Maßen. Hinter jedem Gebüsch, in jedem Schuppen der pastellfarbenen Ferienhäuser vermutet er das Böse, das ihn aufgrund seiner voyeuristischen Veranlagung magisch anzieht.

Eine Katastrophe naht, bloß welche? Wird Sarah, auf die sich die „planlose Begierde“ aller Männer richtet, auf einem ihrer einsamen Spaziergänge ebenfalls entführt? Wird der ängstliche Justin in die Schraube des Motorbootes geraten? Wird Meg sich nach ihrem erfolgreichen Alkoholentzug doch wieder besaufen? Am Ende entlädt sich die Spannung in der minutiös geschilderten Ermordung einer Fliege, die grausamste Szene des ganzen Buches. Die eigentliche Katastrophe, die von Mutter Emily geschickt eingefädelte Entzweiung der Geschwister Ken und Meg, entwickelt sich dagegen eher beiläufig und unspektakulär.

Die Detailversessenheit, mit der O’Nan den amerikanischen Alltag vom Frühstücksei über den Krabbendip bis zur gebackenen Kartoffel schildert, ist beeindruckend. Wie unter dem Mikroskop betrachtet er das Inventar von Souvenirshops, Schnellrestaurants und Vergnügungsparks. Seine präzisen Beschreibungen von Bewegungsabläufen („vordere Schulter hochgezogen, Kopf unten, durchschwingen“) könnten glatt Lehrbüchern zum Thema „Golf für Anfänger“ entstammen. Als sich Lise gelangweilt von ihrem „Harry Potter“ abwendet, weil er ihr zu viel Märchen und zu wenig Wirklichkeit bietet, wirkt das wie ein selbstbewusster Kommentar O’Nans: Das wirkliche Leben, ruft er uns zu, findet in diesem Roman statt!

Stewart O’Nan: „Abschied von Chautauqua“. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 700 Seiten, 24,90 Euro