„Fakten sind oft viel interessanter“

Der Spielfilm „Maria voll der Gnade“ erzählt von einer jungen Kolumbianerin, die Kokain nach New York schmuggelt. Ein Gespräch mit dem Regisseur Joshua Marston über verlogene Antidrogenkampagnen, Recherchen in Gefängnissen und Zollbehörden und die Notwendigkeit des genauen Blicks

Interview CRISTINA NORD

taz: Herr Marston, wie kamen Sie dazu, einen Film über Drogenschmuggel zu drehen?

Joshua Marston: Es sind mehrere Themen, die ich behandele: Drogenschmuggel, Immigration und wie es ist, ein 17 Jahre altes Mädchen zu sein. Und um Blumen geht es auch noch. All diese Themen ergeben sich für mich daraus, dass ich mir die Lebensgeschichten von Leuten angehört habe. Zum einen interessieren mich Migrationsgeschichten, zum anderen die politische Situation in Kolumbien. Während ich also in Brooklyn und Queens mit kolumbianischen Migranten sprach, stieß ich auf die Geschichte der jungen Frau, die als Drogenschmugglerin, als mula [Maultier], unterwegs gewesen war.

Wie haben Sie recherchiert?

Zweigleisig: Ein Teil bestand darin, in Gefängnissen Interviews mit Drogenschmugglern zu führen. Ich hatte das Glück, dass sie mir vertrauten und mich an ihren Geschichten teilhaben ließen. Tausende Details sind gar nicht in den Film eingeflossen, Details, die beweisen, dass die Fakten oft viel interessanter sind als Fiktionen. Zum Beispiel die Geschichten von den Leichen, die kaum zwei Meilen vom Kennedy-Airport am Straßenrand aufgefunden werden, die Bäuche aufgeschlitzt, die Eingeweide rausgerissen. Oder die Geschichte von dem Mann, der, nachdem er die Drogenkapseln abgeliefert hatte, in so kleinen Scheinen ausbezahlt wurde, dass er die Banknoten verschlucken musste, um sie zurück nach Kolumbien zu bringen.

Und worin bestand die zweite Facette?

Ich musste begreifen lernen, wie es ist, eine junge Frau in einer kolumbianischen Kleinstadt zu sein. Das war der schwierigere Teil, schließlich bin ich nie ein 17-jähriges Mädchen gewesen. Also reiste ich nach Kolumbien und Ecuador, ein wenig wie ein Anthropologe, und interviewte die Menschen. Das war eine große Entdeckungsreise, die mit der Recherche keineswegs aufhörte, sondern während der Proben, des Drehs und sogar noch während des Schnitts andauerte.

Haben Sie auch Angestellte der Drug Enforcement Agency befragt? Und gaben die Informationen bereitwillig heraus?

Ja, ich habe Leute von der DEA getroffen und außerdem am Kennedy-Airport mit Angestellten der Zollbehörde gesprochen. Die waren sehr hilfreich, zum Teil, weil sie Werbung in eigener Sache gut gebrauchen können. Denn die US- Zollbehörde hat ein Problem: Ihr wird vorgeworfen, dass dem Profiling …

dem Muster, das vorgibt, welche Reisenden kontrolliert werden …

… rassistische Kriterien zugrunde liegen. Die Position der Zollbehörde ist: Wenn wir das nicht täten, würden allzu viele Drogenschmuggler durchkommen. Ihr liegt daran, dass dies dargestellt wird.

Hatten Sie je die Idee, gleich einen Dokumentarfilm zu drehen?

Nein, denn es sollte ja kein Film über Drogenhandel werden, sondern über eine 17-Jährige – obwohl das ursprüngliche Drehbuch eine viel politischere Geschichte über den Krieg gegen Drogen vorsah. Aber ich merkte rasch: Ich kann keinen Film über eine Idee machen, das würde in Ideologie und Propaganda münden. Genau das wollte ich aber nicht; ich wollte vielmehr eine komplizierte Situation nuancenreich darstellen, und das ging nur, solange ich mich auf die Hauptfigur konzentrierte.

Was wäre denn diese politische Geschichte gewesen? Eine Anklage gegen die Antidrogenpolitik der USA in Kolumbien?

Es ist doch so, dass, wenn es um Drogen geht, in den Medien oft eine Form von Propaganda vorherrscht, die sehr simpel und reduktionistisch ist. Drogenschmuggler, wird uns weisgemacht, sind Kriminelle und gehören daher ins Gefängnis. In Kolumbien hängen überall Plakate: „Sei kein Maultier“, ganz so wie bei Nancy Reagans Kampagne „Just say no“. Ein Maultier ist ein Tier, die Schmuggler werden also gewissermaßen entmenschlicht und kriminalisiert. Das kommt den Politikern zupass, denen das Image, hart gegen Drogen vorzugehen, nützt. Wenn sie das Problem vereinfacht darstellen, können sie auch einfache Antworten anbieten: immer mehr Leute einsperren, immer neue Gefängnisse bauen, immer neue Hubschrauber an Kolumbien liefern, um dort noch mehr Leute festzunehmen.

Dagegen setzen Sie bewusst das Bild einer durch und durch menschlichen Schmugglerin?

Ich möchte eine Form von Sympathie herstellen, ein Verständnis: Wer sind diese Leute? Was treibt sie an? Und dabei wird deutlich, dass das Problem eben nicht simpel ist. Erst wenn wir uns dem Problem der Drogen in seiner ganzen Komplexität stellen, werden wir in der Lage sein, es zu lösen.

Der Film zeichnet sich durch seinen präzisen Blick aus. Wie eine Rosenplantage funktioniert, welche Handgriffe dort anfallen, welche Werkzeuge zum Einsatz kommen – all das ist genauso von Belang wie später die Einzelheiten des Drogenschmuggels: das Einpacken, das Schlucken der Kapseln, das verdauungshemmende Medikament usw. Warum waren Ihnen die Details so wichtig?

Filme mit einem Blick fürs Spezifische sind erfolgreicher als solche, die sich im Allgemeinen verlieren, davon bin ich überzeugt. Und dann ging es mir ja darum, gegen Stereotype anzuarbeiten. Das heißt: ein Thema wählen, über das die Zuschauer alles zu wissen meinen, und es so darstellen, dass ihnen klar wird, wie wenig sie darüber in Wirklichkeit wussten. Wenn man den Film sieht, wiederholt sich gewissermaßen der Lernprozess, den ich während der Recherche durchmachte. Als ich anfing, an „Maria voll der Gnade“ zu arbeiten, wusste ich ja nicht mal, dass Kolumbien die zweitgrößte Rosenindustrie weltweit hat. Diese Freude an der Entdeckung soll sich auf die Zuschauer übertragen.

„Maria voll der Gnade“. Regie: Joshua Marston, mit Catalina Sandino Moreno, Patricia Rae u. a., USA/Kolumbien 2004, 101 Min.