Musik, die keine sein darf

GEDUDEL Die kurzen Tonbrücken zwischen den Wortbeiträgen im Deutschlandfunk sind ein kunstvolles Nichts ohne Eigenschaften. Eine klangliche Würdigung zum Fünfzigsten

Im Tagesprogramm übernimmt die Musik rein funktionale Aufgaben – und soll keine Emotionen wecken

VON THOMAS WINKLER

Der Donnerstag beginnt mit einem Schock. Sieben Uhr siebenundzwanzig, und die sonore Stimme von Hans-Jochen Vogel verkündet den „zweiten Rücktritt eines Bundespräsidenten“. Was ist passiert? Ist Christian Wulff noch vor dem Morgengrauen auf die Freitreppe des Schlosses Bellevue getreten und hat dieser Republik und vor allem sich selbst einen großen Gefallen getan?

Nein, Entwarnung: Das milde Lächeln der Deutschlandfunk-Moderatorin ist in ihrer Stimme eher zu ahnen als tatsächlich zu hören, „noch ist es nicht so weit“. Vielen Dank, Herr Vogel, sagt sie noch, dann beginnen Gitarren zu klimpern. Harmlos und nichtssagend, keine halbe Minute, bevor eine neue Stimme einsetzt. Sie berichtet reporterschnarrend vom Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. Aber warum heute?

Der anscheinend anlasslose Rückblick auf den August 1968 wirkt wie ein Kontrapunkt, den die Musik nicht setzen durfte: Es gibt wahrlich wichtigere Dinge als einen Präsidenten, der nicht weiß, wann seine Zeit vorbei ist. Sieben Uhr neunundvierzig, und bei den Vorwahlen der Republikaner in Iowa hat sich kein Bewerber entscheidend durchsetzen können. Dann beginnt ein irgendwie pumpender Matsch, durch den ein Saxofon tutet – aber nur ganz vorsichtig. Ein Soul-Surrogat, das Leidenschaft vorgaukelt, aber vor allem nicht ablenken will von Wulff, von Prag, von Republikanern, deren Namen wenige Tage später vergessen sein werden. Der Deutschlandfunk wird 50 Jahre alt und nirgendwo, so scheint es, wird das eminenter als in seiner Musikauswahl.

Bloß: Wie zum Teufel findet man so eine Musik? Allein durch mühevolle Kleinarbeit. Die sogenannten „Zwischenmusiken“ auszuwählen, die das extrem wortlastige Tagesprogramm des Deutschlandfunks auflockern sollen, ist „eine schwierige Aufgabe“, sagt Ludwig Rink, „und eine undankbare“. Denn der Leiter der Musikabteilung und seine Redakteure müssen täglich die Quadratur des Kreises bewältigen. Sie müssen Musik finden, die, so Rink, „niemandem wehtut und trotzdem allen gefallen soll“. Die Folge: „Die Musik ist deshalb oft gesichtslos, das wissen wir durchaus.“ Das aber wiederum tut wieder Menschen weh, die Musik mögen. Wer tagsüber Deutschlandfunk hört, stellt dennoch Unterschiede fest: Es läuft langweilige, sehr langweilige und tödlich langweilige Musik.

Die Auswahl dieser Zwischenmusiken ist allerdings nur ein Nebenaspekt der Arbeit der Redakteure. Denn auch, wenn es die wenigsten wissen: 20 bis 25 Prozent seiner Sendezeit bestreitet der Deutschlandfunk mit Musik. Ab 20 Uhr wird der Tonanteil deutlich größer. Dann werden Konzerte und Musik-Journale gesendet, Klassik und Rock, natürlich Jazz, aber auch Avantgarde und geistliche Musik.

Und nachts, wenn jeder normale Radiohörer längst vor dem Fernseher eingeschlafen ist, geht es dann endgültig ab: Da lädt das „Atelier neuer Musik“ ein (samstags, 22.05 Uhr) oder der „Spielraum“ verspricht „Rock ohne Grenzen“ (mittwochs, 22.05 Uhr). Noch später, nachdem National- und Europahymne verklungen sind, ist „Rock-Zeit“ (donnerstags, 1.05 Uhr), eröffnet der „Lieder-Laden“ (mittwochs zur selben Zeit) und „Klang-Horizonte“ weiten sich (montags).

Dieser heute kaum noch bekannte Aspekt des DLF hat durchaus Tradition. Beim Sendestart 1962 bestand das Programm noch hauptsächlich aus Musik. Längst hat sich das Verhältnis zugunsten des Wortes verkehrt, aber auf abgelegeneren Sendeplätzen erfüllt der DLF immer noch eine wichtige Funktion: In einer Zeit, in dem selbst die öffentlich-rechtlichen Klassik-Radios oft nur noch die immer selben, von Computern programmierten Gassenhauer senden, bemüht man sich um Klangfarben, die anderswo keinen Platz mehr finden. Der Sender schickt seine Übertragungswagen in Konzertsäle und zu den Festivals für klassische und Neue Musik, er leistet sich bis zu dreistündige Übertragungen selten interpretierter Werke, darunter viele Eigenproduktionen.

Tagsüber aber hat die Musik einen gänzlich anderen Charakter. Während herkömmliche Radiosender über sich die in der Branche sogenannte „Musikfarbe“ definieren und das Altersspektrum ihrer Zielgruppe abstecken, darf die Musik im Deutschlandfunk eben nicht dem Distinktionsgewinn dienen. Sie soll nicht berühren, aber auch niemanden aufregen, sie soll im besten Falle keine Emotionen wecken, also absurderweise genau das nicht tun, was sonst als die vornehmste Aufgabe der Musik gesehen wird. Es ist, kurz gesagt: Musik, die keine Musik sein darf.

Der Grund dafür ist einfach. Im DLF-Tagesprogramm übernimmt Musik rein funktionale Aufgaben. Sie soll überleiten von einem Wortbeitrag zum nächsten, eine kurze Verschnaufpause bieten, Löcher im Programmablauf stopfen. „Musikbrücken“, nennt das Rink. Dazu muss es möglich sein, diese Brücken bereits nach zwanzig Sekunden wieder abzubrechen, sie aber notfalls auch mehrere Minuten weiter dudeln zu lassen, falls die Telefonleitung zum Interviewpartner nicht zustande gekommen oder der geplante Beitrag abgestürzt ist. Deshalb wird ausschließlich Instrumentalmusik ausgewählt, deren Melodie einerseits schnell auf den Punkt kommen muss, bei längerer Spieldauer aber auch nicht zu schnell trostlos werden darf.

„Musikströmungen sind sehr polarisierend“, sagt Rink, das mache es so anspruchsvoll, neutrale Aufnahmen zu finden. Dazu durchstöbern die Redakteure die CDs, die ihnen zugeschickt werden, immer noch höchstpersönlich. Der Computer kommt erst zum Einsatz, um das mittlerweile auf viele tausend Titel angewachsene Repertoire zu verwalten. Dazu werden auch diese Musikstücke, denen ein eher oberflächlicher Hörer kaum noch Eigenschaften zubilligen wird, kategorisiert. Denn nach einer Reportage aus einem Krisengebiet würde ein fröhliches Geklimper, selbst wenn es von einem barocken Spinett stammt, als pietätlos empfunden.

Emotional neutral, musikalisch unaufregend – und als wäre das noch nicht genug, dürfen die Titel, so Rink, auch inhaltlich „möglichst keine Bezüge zu den Wortbeiträgen herstellen“. Denn wäre am Donnerstag nach dem Interview mit Hans-Jochen Vogel, sagen wir mal, der alte Beatles-Evergreen „Yesterday“ erklungen, selbst in einer instrumentalen Version, hätte das allzu leicht als vorzeitige Verabschiedung des Bundespräsidenten interpretiert werden können.

Aber immerhin: Die angejazzte Version des „Pink Panther“, lange ein DLF-Dauerbrenner, ist nun aus dem Programm verschwunden. Schuld ist die Zwickauer Terrorzelle.