Wilms Vermächtnis

WIDERSTAND Wie sich der Wehrmachtshauptmann Wilm Hosenfeld von einem strammen Patrioten zu einem Regimegegner entwickelte, der seit 1940 in Polen NS-Opfer schützte

 2009: Zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundeswehr legen am 20. Juli mehrere Hundert Rekruten vor dem Berliner Reichstag ihr Gelöbnis ab. Wie das Bundesverteidigungsministerium mitteilte, nehmen an der Zeremonie zum 65. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler rund 400 Soldaten aus der Brückberg-Kaserne im nordrhein-westfälischen Siegburg sowie der Berliner Julius-Leber-Kaserne teil. Zu ihnen sprechen werden Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (beide CDU).

■ 1944: Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Verschwörern hatte der Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juni 1944 versucht, Hitler zu töten. Das Attentat scheiterte, Stauffenberg wurde noch in der Nacht im Bendlerblock hingerichtet.

■ Protest: Bundeswehrgegner haben wie in den vergangenen Jahren Protest gegen den öffentlichen Appell angekündigt. Ihr Ziel ist es nach eigenen Angaben, das Gelöbnis zu stören. Sie wollen sich am späten Nachmittag zu einer Auftaktveranstaltung am Potsdamer Platz versammeln. Im vergangenen Jahr hatten während der Zeremonie vor dem Reichstag rund 1.000 Menschen gegen die Veranstaltung demonstriert. Die Berliner Polizei war mit 1.800 Beamten im Einsatz, die das Regierungsviertel weiträumig abriegelten. DDP

VON STEFAN REINECKE

Eigentlich will Helmut Hosenfeld keine Interviews mehr geben. Vor sieben Jahren, als Roman Polanskis Film „Der Pianist“ ins Kino kam, hat er mit Journalisten und Filmleuten über seinen Vater geredet. Und vor fünf Jahren, als ein 1.200-seitiger Band mit Briefen und Tagebüchern seines Vaters erschien. Sein Vater war Wilhelm Hosenfeld, genannt Wilm, der als Wehrmachtshauptmann in Polen das Leben von Juden rettete. Auch das des Pianisten Wladyslaw Szpilman, den er versteckte und vor dem Hungertod bewahrte.

Helmut Hosenfeld ist 88 Jahre, wohnt in einem Vorort von Fulda und das Gespräch strengt ihn an. Er hat buschige Augenbrauen und wache Augen. Er hört schlecht und sagt: „Ich erzähle manchmal Dinge zweimal. Dann müssen sie mich unterbrechen.“ Er sagt, „die deutlichste Erinnerung an meinen Vater ist eine Szene in Warschau 1941“. Damals besuchte er als zwanzigjähriger Soldat, der an der Ostfront kämpfte, seinen Vater. In Warschau erzählt der Vater eine Geschichte, die sich in sein Gedächtnis gegraben hat. Ein polnischer Junge hatte Heu gestohlen. Ein SS-Mann wollte ihn erschießen. Der Vater flehte ihn an, das Kind zu verschonen. Der SS-Mann zog seine Pistole und sagte: ‚Verschwinde, sonst legen wir dich auch um.‘ Danach, sagt Helmut Hosenfeld, war etwas anders geworden. „Ich war vorher als guter Soldat bereit, mein Leben zu opfern. Danach wollte ich nur noch überleben.“

Sein Vater Wilm ist vor einem Monat von Jad Vaschem, der israelischen Schoa-Gedenkstätte, als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet worden. Als einer von knapp 500 Deutschen. Die Anerkennung kam spät und war schwierig. Denn die Sowjets verurteilten Hosenfeld 1949 in Minsk als Kriegsverbrecher. Er starb 1952 elendig in einem Lazarett bei Wolgograd. Die weißrussische Regierung sah keinen Bedarf, das Urteil zu revidieren. Deshalb dauerte die Ehrung, trotz der Publizität durch Polanskis „Der Pianist“, so lange.

Wilm Hosenfeld war zu Beginn kein Hitler-Gegner. Er kam aus der völkischen Wandervogelbewegung, die empfänglich war für das Antibürgerliche und die Volksgemeinschaftsidee der Nazis. Und er war als Lehrer und Soldat im Ersten Weltkrieg national eingestellt. Kaum eine Berufsgruppe unterstützte Hitler so fanatisch wie die deutschen Pädagogen. Hosenfeld war seit 1933 in der SA und im NS-Lehrerbund und seit 1935 in der NSDAP. Im Jahr 1933 abonniert er das NS-Propagandablatt Völkischer Beobachter – aber nur zwei Monate. Er fand es zu hetzerisch.

Im Jahr 1936 nahm er als SA-Mann am Reichsparteitag in Nürnberg teil und notierte in seinem Tagebuch: „Mich ergreift das Erlebnis der großen Gemeinschaft, in der wir marschieren. Es ist wie im Krieg.“ Am 10. März 1936 schrieb er: „Goebbels ist ein großartiger Volksredner. Er überzeugt.“ Er organisierte in Thalau, dem heimischen Dorf in der Rhön, das Heldengedenken für gefallene Soldaten im Ersten Weltkrieg.

„Wir haben uns gefragt, warum er das gemacht hat“, sagt Detlev Hosenfeld, der sechs Jahre jüngere Bruder. Er wohnt in Kiel und ist so etwas wie der Sprecher der Familie. Bei der Gedenkfeier für den Vater im Jüdischen Museum in Berlin hat er kürzlich die Dankesrede gehalten. Die beiden Söhne sind Kinderärzte geworden und haben, eine Prägung durch den reformpädagogisch orientierten Vater, mit Kindern gearbeitet.

Detlev Hosenfeld macht Pausen beim Sprechen, um die Worte richtig zu wählen. Er redet analytischer, auch distanzierter als sein Bruder über den Vater. Helmut, der Erstgeborene, war dem Vater näher, auch wegen der Erfahrung als Soldat. Detlev Hosenfeld sagt, dass im Ersten Weltkrieg die „besten Freunde des Vaters neben ihm gestorben sind. Das war ein Trauma, das ihn belastet hat.“ Deswegen hatte er das Gefühl, etwas schuldig zu sein, deswegen das Heldengedenken.

Im Jahr 1939 nimmt Wilm Hosenfeld, national gestimmt, am Überfall auf Polen teil. Und erkennt im November 1939, was passiert. Dass dies kein normaler Krieg und kein normales Besatzungsregime ist und dass die Nazis systematisch die polnische Intelligenz ausrotten. Am 15. Dezember 1939 schreibt er an seine Frau, dass man „sich schämt, ein Deutscher zu sein“.

Und doch ist der Hauptmann 1940 noch keineswegs ein entschlossener Regimegegner. Am 26. Juni 1940 schreibt er, beeindruckt von den Blitzkriegerfolge im Westen: „Der Krieg [gegen England] kann nur mit brutaler Gewalt entschieden werden. Die Engländer wolltens ja so.“ Im Jahr 1941 wird er Leiter einer Wehrmachtsportschule in Warschau. Und beginnt Polen und Juden vor dem Besatzungsterror zu schützen. Er rettet den katholischen Priester Anton Cieciora vor der SS, lernt Polnisch und freundet sich mit einer polnischen Familie an. Er fälscht Papiere und bewahrt 1944 einen Schwager von Anton Cieciora vor der Erschießung. Im Winter 1944 nach dem mit Terror niedergeschlagenen Warschauer Aufstand verhört er Gefangene und versucht so viele wie möglich vor dem Tod zu bewahren. Diese Wandlung, sagt Detlev Hosenfeld, „war ein Prozess“. Es gab nicht das „eine alles entscheidende Schlüsselerlebnis“.

Die Briefe und Tagebuchnotizen, die von Thomas Vogel vorzüglich für das Buch „Ich versuche jeden zu retten“ editiert wurden, zeigen, dass 1942 der endgültige Wendepunkt ist. Denn Hosenfeld nimmt präzise wahr, was passiert. Das NS-Regime hat im Januar auf der Wannseekonferenz die „Endlösung“ beschlossen, die Ghettos werden geräumt. Im Juli 1942 schreibt er in sein Tagebuch von der Massentötung von jüdischen „Männern, Frauen und Kindern durch Gaswagen“. Diese „Virtuosität im Massenmorden“ sei ohnegleichen. Am 13. August 1942 notiert er Berichte aus dem Ghetto, dass Gestapo-Männer jüdische Säuglinge aus der Entbindungsanstalt holen und töten. „Man glaubt das nicht, trotzdem ist es wahr. Was sind wir Feiglinge, dass wir das geschehen lassen.“ Im Juni 1943, nach dem vollbrachten Massenmord an den Warschauer Juden, notiert er: „Mit dem Judenmassenmord haben wir einen unauslöschlichen Fluch auf uns gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig. Jeder Pole hat das Recht, vor unsereinem auszuspucken.“

„Die deutlichste Erinnerung an meinen Vater ist eine Szene in Warschau 1941“

Dieses Tagebuch schmuggelt Hosenfeld 1944 in schmutziger Wäsche nach Hause. Wäre es entdeckt worden, er wäre wohl wegen Kriegsverrat und Wehrkraftzersetzung hingerichtet worden. Doch das Bedürfnis, dieses Zeugnis zu schützen, ist stärker. Schon die mit der Wehrmachtspost verschickten Briefe an seine Frau waren mehr als gefährlich. Am 21. Juli 1944 – einen Tag nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs – schreibt er an seine Frau: „Das Verhängnis nimmt nun weiter seinen Lauf.“

Detlev Hosenfeld hat seinen Vater vor 65 Jahren, im Februar 1944, das letzte Mal gesehen. Er war als 16-jähriger Flakhelfer in Kassel, der Vater auf Heimaturlaub in Thalau. Der Vater hat selten von dem Schrecken in Warschau berichtet. „Aber im Februar hat er erzählt, dass die Juden in den KZs die Leichen wegschaffen müssen. Ich erinnere mich, weil ich es damals so unfassbar fand“, sagt er zögerlich.

Helmut Hosenfeld holt ein Gemälde, ein in Blassgrün gehaltenes Portrait seines Vaters. „1940“ steht mit Bleistift auf der Rückseite. Wilm Hosenfeld hat auf dem Bild einen geraden Blick, einen korrekten Seitenscheitel, eine ordentliche Uniform. Das Porträt eines deutschen Soldaten. Warum hat ausgerechnet er Menschen gerettet? Warum haben so viele andere, die auch gläubige Katholiken und Patrioten mit humanistischen Idealen waren, dies nicht getan? Empirische Befragungen von Judenrettern zeigen, dass mehr als zwei Drittel spontan handelten und nur ein Fünftel ihre Taten planten. Meistens waren die Rettungen unwillkürliche humane Gesten. Das ist eine Annäherung an das Phänomen, eine Erklärung ist es nicht.

Der Vater, sagt Helmut Hosenfeld, hatte immer einen offenen Blick und die „Fähigkeit zum Mitfühlen“. Es war so, dass „ihm jeder Mensch etwas bedeutet hat“. Er eignete sich nicht als Rassist. So einfach? Ja, so einfach.

Helmut Hosenfeld hat den Krieg durch Glück überlebt. Weil Ärzte gebraucht wurden, durfte er 1943 in Frankfurt am Main studieren. Sonst wäre er wohl in Stalingrad umgekommen. Und was hat Helmut Hosenfeld von dem Terror der Nazis im Osten wahrgenommen? Im Jahr 1941, an der Ostfront, erzählt er, musste er einen verwundeten Rotarmisten versorgen. Der Gefangene lag im Keller eines Schulgebäudes. Er brachte ihm Essen. Als die Truppe weiterzog, ging er in den Keller, um nachzusehen. Jemand hatte ihn getötet. „Erschossen, einfach so“, sagt Helmut Hosenfeld mit einem Zittern in der Stimme. „Habe ich das jetzt doppelt erzählt?“, fragt er unsicher. Für einen Moment ist es still. Man blickt in den Garten und auf den Apfelkuchen. Nein, sagt Detlev Hosenfeld. „Das hast du noch nie erzählt.“