Weiße Perle am Schwarzen Meer

Schon unter Stalin, spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verkam die quirlige Metropole Odessa zu einem öden Provinzzentrum. Vieles liegt noch im Argen, aber die Stadt mit der unwiderstehlichen Mischung aus Ost-Charme und mediterranem Flair gewinnt wieder an Bedeutung

VON EGBERT HÖRMANN

Es ist ein triumphaler Gang zum Meer, zum Horizont des Südens, zum Amphitheater von Bucht und Hafen. Die 30 Meter hohe Potemkin-Treppe mit ihren 192 Stufen und zehn Absätzen gilt als steinerne Ikone des 20. Jahrhunderts; ihre raffiniert berechneten Abmessungen lassen sie beim Blick von oben nach unten hin breiter erscheinen. Früher führten die untersten Stufen direkt ins Wasser, heute dämpfen eine am Ufer vorbeiführende Straße und der verlotterte Fähren-Terminal die grandiose Wirkung. Dennoch ist die Treppe immer noch der atemberaubende Bühnenaufgang zu einer Stadt, die einmal Welttheater war: Odessa.

Es war das Marseille und das San Francisco des Ostens, das Palmyra des Südens, Klein-Paris, die Weiße Perle am Schwarzen Meer. Der Legende nach verfügte Katharina die Große, die einen für den russischen Getreideexport dringend benötigten Handelshafen am Schwarzen Meer und ein Tor zum Mittelmeerraum brauchte, auf einem Ball, dass hier am Kreuzpunkt von Steppe und Meer, wo die russischen Truppen die türkisch-tatarische Festung Ei-Dunja eingenommen hatten, eine von aufklärerischen Ideen bestimmte Stadt „ex nihilo“ geschaffen werde: Chadschibei.

Nach einem Jahr, 1795, wurde die Neugründung in Odessa umbenannt. Streng geometrisch mit im rechten Winkel zueinander stehenden Vierteln angelegt, war es von Anfang an eine Vielvölkerstadt, da Neusiedler angeworben werden mussten, die mit Vergünstigungen und Privilegien rechnen durften, insbesondere dem zollfreien Handels- bzw. Hafenrecht, das Odessa 1817 erhielt. Es war ein Freihafen ohne die im restlichen Russland erst 1861 von Alexander dem Zweiten aufgehobene Leibeigenschaft. Hier unterlagen auch die Juden keiner Aufenthaltsbeschränkung.

Das Russische Reich war im 19. Jahrhundert eines der großen Einwanderungsländer, und Ausländer erbauten und verwalteten die Stadt. Italiener entwarfen die Paläste, Griechen leiteten die Schifffahrt, Deutsche bauten den Weizen an, aus Galizien zugewanderte Juden dirigierten den Handel. Odessas erster Gouverneur, der charismatische französische Emigrant Duc de Richelieu, ein Großneffe des berühmten Kardinals, lenkte von 1803 bis 1814 die Geschicke des noch jungen Odessas. Es war ein Triumph kühler Planung und kühner Realisierung. Bereits zwei Jahre nach der Gründungsfeier gab es eine Oper, eine Börse, eine Kathedrale und ein Zensuramt. Und Odessa gedieh: Bereits hundert Jahre nach dem Reskript der Zarin war es die viertgrößte Stadt des russischen Imperiums, ein einmaliges Gemisch religiöser, ethnischer, nationaler und kultureller Gemeinschaften.

Die Geschichte dieser Handelsmetropole und Business-Drehscheibe ist von Aufschwüngen, Brüchen und Pausen bestimmt. Krimkrieg, Oktoberrevolution, Nazi-Besetzung, Ende der UdSSR, Konstitution der Ukraine als eigener Staat. Wann der eigentliche Niedergang Odessas begann, ist eine vieldiskutierte Frage, aber spätestens während der Stalin-Ära, als Odessa für den Außenhandel fast völlig geschlossen wurde, verkam die quirlige Metropole zu einem öden Provinzzentrum.

Stadt der Erinnerung und des Abschieds, der Akazienblüte und des Meersalzes – was aber immer blieb, ist ein komplexes Symbol, der Mythos Odessa, ein „corpus“, der keine Analogie kennt und von drei Komponenten gespeist wird: den Juden, dem Hafen, der damit verbundenen Internationalität und dann natürlich Odessas Weltexport Nummer eins: der odessitische Humor.

Bei der Gründung Odessas soll es sechs Juden gegeben haben. 1897 waren es bereits 140.000, also ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Odessa, ein Zentrum des Emanzipationskampfes der russischen und der osteuropäischen Juden, litt vor der Revolution zwar auch an vereinzelten Pogromen und während der Stalin-Zeit unter der Vernichtung der Intelligenzija, aber das Ende des jüdischen Odessa erfolgte während der deutsch-rumänischen Besatzung vom August 1941 an: Dem 907 Tage dauernden Nazi-Terror fielen zirka 120.000 Juden zum Opfer. Heute leben in Odessa nur noch 40.000 Juden. Zentrum des jüdischen Lebens war die Moldavanka, die legendäre jüdische Vorstadt mit ihren Kleingangstern und Überlebenskünstlern, denen Odessas größter Dichter, Isaak Babel, mit seinen „Geschichten aus Odessa“ ein unvergessliches Denkmal von „stilistischer Kaltblütigkeit“ setzte.

Das Meer ist der ewige Liebhaber der schönen Stadt – und der Hafen war von Anfang an Odessas Schicksal. Vom milden Klima der Region unterstützt (die Stadt hat zirka 285 Sonnentage im Jahr), schuf er eine weltoffene, lebenslustige Atmosphäre und einen freizügigen, internationalen Lebensstil – gekennzeichnet von Leidenschaft, Sentimentalität, Toleranz, Spontaneität, Improvisationsfähigkeit und Humor. Hier wurde der Odessa-Jazz geboren – und ein spezieller, jüdisch gefärbter Sprachwitz, der knapp, saftig, ironisch, melancholisch, schlagfertig und unverblümt war.

Auch heute findet Odessas Leben wieder in der Öffentlichkeit statt. Nichts lieben die Leute mehr, als auf dem Primorski- oder anderen Boulevards zu flanieren, wo man unter einem dichten Blätterdach von Platanen, Akazien und Linden die vom Techno-Beat untermalten improvisierten Freiluftpartys genießt. Hier zeigt Odessa seine unwiderstehliche Mischung aus Ost-Charme und mediterranem Flair.

Odessa paradox – eine russische Millionenstadt, in der jeder jeden zu kennen scheint und die seit 1991 zur nunmehr unabhängigen Ukraine gehört. Seit sie wie andere Städte vom Zusammenbruch der Märkte nach dem Ende der UdSSR und von der Finanzkrise im August 1998 erfasst wurde, stagniert sie vor sich hin. Der historische Kern ist zwar behutsam ausgebessert worden, Oper, Börse und die von imposanten Baumreihen gesäumten Prachtboulevards entzücken wie eh und je, und die vitale Lebensfreude der Odessiten ist ungebrochen. Aber der Hafen und die großen Betriebe bedürfen der Modernisierung und der Investitionen, die Probleme mit der Wasser- und Elektrizitätsversorgung sind weiterhin vorhanden.

Vieles liegt noch im Argen, aber unter den neuen geopolitischen Verhältnissen gewinnt die Küsten- und Grenzlage der Stadt langsam wieder an Bedeutung. Im Hafen werden heute immerhin jährlich 44 Millionen Tonnen Güter umgeschlagen.

„Ich habe den Eindruck, dass sich Odessa irgendwie verirrt hat. Es hat seine bisherige Gestalt verloren, und eine neue noch nicht gewonnen“, schrieb ein Beobachter 1913. Ist Odessa sich verloren gegangen? Noch sind die Markierungen seines urbanen Ideals zu erkennen, der Gedanke der antiken Polis, der hier noch fortlebt. Als See- und Agrarregion, als Spenderregion für den ukrainischen Haushalt haben Stadt und Region gute Chancen, sich wirtschaftlich zu erholen, neu zu entwickeln und sich in diesem Prozess ein neues Antlitz zu geben.

Dies geschieht aber auch in der Suche nach dem Anschluss an die alte Identität: Korridor der Geschichte, Stadt von Handel, Verkehr, Kultur, Amüsement und Erholung. Gleichzeitig verändert sich die Stadtgemeinschaft gewaltig: Die Zuwanderung aus dem Hinterland und dem Kaukasus ist hoch, die Emigration ebenso, vor allem von jungen Juden, die ihre Zukunftsressourcen woanders erproben möchten.

Aber Odessa ist eine bittersüße Passion im Blut, die ihre eigene Macht hat. Für keine Stadt der ehemaligen Sowjetunion existieren im Internet so viele Homepages wie für Odessa. Das „Odessa Guest Book“ hält auf etwa 250 Seiten die Nation der Odessiten zusammen. „Your page is great! Please add connections to real Odessa!“ Das wirkliche Odessa? Das wirkliche Odessa, ob in New York, Tel Aviv, Buenos Aires, Berlin oder Madrid, trägt jeder mit sich: Mama Odessa. Viele, wenn sie konnten, gingen weg. Um dann, in alle Winde zerstreut, von Odessa zu träumen.