Abschied von den Außerirdischen

Das Science-Fiction-Kino spielt heute nicht mehr im All, sondern widmet sich Fragen der Biopolitik, des Klonens und der Gene. So wie Michael Winterbottoms Film „Code 46“, der ein gentechnisch geregeltes Abschottungsszenario der Zukunft entwirft

Zur Strafe droht die Löschung der Erinnerung aus dem Gedächtnis. Oder der Ausschluss aus der privilegierten Zone

VON EKKEHARD KNÖRER

Die Ära der Aliens, scheint es, ist vorbei. Das seit Jahren in der Krise befindliche Science-Fiction-Genre hat sich von seinen bisher gewohnten Fremd- und Feindbildern verabschiedet. Dafür rückt die Zukunft immer näher. Viele der ernst zu nehmenden Sci-Fi-Filme der letzten Jahre beginnen mit der Einblendung „In a not too distant future“ – so etwa Andrew Niccols „Gattaca“ von 1997, und so auch „Code 46“, das neue Werk des britischen Vielfilmers Michael Winterbottom. Was die beiden Filme darüber hinaus verbindet, ist der Bezug auf Klon- und Genfragen, mithin auf die Verbindung von Biologie, Schicksal und Politik, kurz „Biopolitik“ genannt.

So jedenfalls lautet der von Michel Foucault geprägte Begriff, mit dem er die Transformation der westlichen Gesellschaften benennt, die sich mit dem 19. Jahrhundert durchzusetzen beginnt. Biopolitik überlagert zusehends, so Foucault, die auf Disziplinierung von Individuen gerichtete Souveränitätspolitik. Biopolitische Maßnahmen richten sich dagegen nicht mehr auf das Individuum. Ihr Instrument ist nicht der Einschluss in Straf- und Überwachungsinstitutionen. Ins Blickfeld gerät stattdessen die Bevölkerung als Ganzes, in Gestalt der Steuerung von Geburtenraten und versicherungstechnischer Risikoberechnungen oder, ganz allgemein, als globaler Eingriff in die Bereiche von „Geburt, Tod, Produktion, Krankheit“ (Foucault).

Die Macht wird regulatorisch und trifft nicht in der souveränen, rechtsförmigen Bestimmung über Leben und Tod das Individuum, sondern den Menschen als Lebewesen in der Durchsetzung bevölkerungspolitisch erwünschter Maßnahmen, die keineswegs als Zwangsmaßnahmen auftreten müssen.

Winterbottoms „Code 46“ verknüpft, anders als „Gattaca“, Thesen zur Biopolitik mit der Kritik an globalisierten Abschottungstendenzen, die der Regisseur schon in seinem (mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten) Schleuserdrama „In This World“ verhandelt hat. Im Zentrum des neuen Films stehen zunächst die so genannten Papelles. Es handelt sich, im hübschen Hybrid-Speak der Film-Dialoge, um den Pass, der aber etwas anderes ist als das Reisedokument, als das wir ihn kennen. Verzeichnet sind virale Anfälligkeiten der Person, die die Reise in bestimmte Zonen der Welt nicht angeraten sein lassen. Nicht die Politik des Nationalstaats setzt die Grenzen, vielmehr stellt sich die Untersagung in den Dienst desjenigen, den sie – als Visa-Verweigerung – trifft.

Das Risiko der Erkrankung setzt der Freizügigkeit eine Grenze. Das gilt allerdings nur von der Innenseite her, denn die Grenzen, die mit dem richtigen Papel passiert werden können, unterstehen der uns bekannten globalen Asymmetrie eines privilegierten Innen und eines depravierten Außen. Die städtischen Zonen sind umgeben von den verelendeten, einer von Menschenhand zerstörten Umwelt ausgesetzten Außenzonen, den Fueras.

Mit einer legalen Grenzüberschreitung beginnt der Film. Der Versicherungsermittler William Geld (Tim Robbins) kämpft sich durch den abgerissenen Pulk von Menschen, die kleiner Geschäfte und Almosen wegen eine Grenze belagern, doch ohne Aussicht, sie je zu überwinden. William Geld ist aus Seattle eingeflogen, wird durch die wüst und öd daliegende Außenzone chauffiert und gelangt ungehindert in die Innenzone Schanghai, um eine Bereinigung vorzunehmen: Es gilt, eine Papel-Fälscherin im Innern des Konzerns aufzuspüren, der den Namen Sphinx trägt.

Mit Hilfe eines Empathie-Virus wird Geld die Täterin finden. Sie trägt den Namen Maria, und Samantha Morton gibt ihr eine Gestalt von traumverlorener Androgynität. Geld wird sie zur Rede stellen, er wird sich in sie verlieben, er wird mit ihr schlafen. Eine Bewegung von außen nach innen, vom Politischen ins Intime. Am Punkt größter Intimität aber werden sie auf eine Grenze anderer Art stoßen, nicht weniger untersagend als die Außengrenzen der privilegierten Zonen: Diese Grenze trägt den Namen eines Gesetzes: „Code 46“.

Geregelt ist darin das Verbot des Inzests. Maria, stellt sich heraus, ist unbefleckt empfangen als Klon, ihre Gene sind mit denen von Williams Mutter identisch. So wird William Geld unversehens zu Ödipus. Die biopolitische Zone, in der der Zugriff auf den Körper des Einzelnen erfolgt, öffnet sich in „Code 46“ also an der Stelle des untersagten Geschlechtsverkehrs. Maria ist schwanger, die befruchtete Eizelle wird sofort entfernt – und Marias Erinnerung an William aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

Jedes rechtliche Verfahren, jeder Besserungs- und Disziplinierungs-Diskurs bleibt aus. Maria wird nicht bestraft, sondern zu ihrem Besten – der Name sagt’s: in ihrer Jungfräulichkeit – wiederhergestellt.

Was dabei zunächst wie ein eher beliebiges Versatzstück der Science Fiction wirken mag, nämlich die Löschung der Erinnerung, ist in Wahrheit das zentrale Moment. Erinnerung erst erschafft persönliche Identität und damit Subjekte. Die Löschung der Erinnerung erweist sich somit als perfekte Metapher für einen nichtdisziplinarischen, und das heißt: einen biopolitisch begründeten Zugriff auf menschliche Individualität. Die Konjunktur, die durch Gedächtnislöschungen identitätsgestörte Helden derzeit haben – man denke auch an Michel Gondrys „Vergiss mein nicht“ – legt nahe, dass hier gerade ein fundamentaler Umbruch in der Identitätspolitik von Heldenfiguren stattfindet.

Daher bleibt etwa Andrew Niccols „Gattaca“ so unbefriedigend. Der Film erzählt seine in die nahe Zukunft fortgeschrittener genetischer Wahlmöglichkeiten verlegte Geschichte noch als traditionelle Helden-Story. So zeigt er zwar, wie sehr das Leben zu einer Sache fortwährender Tests und Assessment-Verfahren geworden ist, wie an die Stelle von ethischen Normen die statistische Norm tritt, die es durch gezielte genetische Bevölkerungspolitik zu verbessern gilt. Zuletzt wird es dem nicht perfektionierten Protagonisten aber gelingen, die Testverfahren zu überlisten – ganz ähnlich wie auch Truman Burbank in dem nach Niccols Drehbuch entstandenen Film „The Truman Show“ zuletzt der Durchbruch zur Erkenntnis und der Ausbruch aus der Big-Brother-Welt gelingt.

Die Umstellung von Ausbruchs- und Überwindungsszenarien auf Modelle undurchschaubarer Verstricktheit, in „Code 46“ in einer ödipalen Variante zu beobachten, ist in der Geschichte der Science Fiction vor allem mit dem Namen des Romanautors Philip K. Dick verbunden. Das entscheidende Datum in der Geschichte des Science-Fiction-Films ist entsprechend das Jahr 1982, in dem mit „Blade Runner“ die erste Verfilmung eines Dick-Romans entstand. Die Menschen haben sich darin – auch das eine biopolitische Agenda – Androiden als verbesserte Version ihrer selbst zur Seite gestellt. Mit deren Ausbruch aus der ihnen zugewiesenen Zone ereignet sich der Einbruch des Nichthumanen ins Humane. Allerdings wird genau diese zunächst scheinbar klare Unterscheidbarkeit zwischen Menschen und Replikanten am Ende kollabieren, der Replikantenjäger Deckard ist – im Roman deutlicher als im Film – selbst ein Replikant.

Ein gutes Jahrzehnt nach „Blade Runner“ hat der Philosoph Giorgio Agamben im Jahr 1995 unter dem Titel „Homo Sacer“ seine Thesen zur Biopolitik vorgelegt. Sie laufen – in bewusster Verschärfung Foucaults – auf die zentrale Behauptung hinaus, dass gerade die liberalen Gesellschaften an der Stelle, an der Leben und Politik aufeinander stoßen, die paradoxe Figur des „Homo Sacer“ erzeugen. Bezeichnet ist damit nacktes, wertloses Leben. Leben, das keineswegs heilig ist, sondern aus den Ordnungen des Politischen wie des Humanen herausfällt – und diese Ordnungen im notwendigen Herausfallen gerade hervorbringt. Als Figuren des „Homo Sacer“ in der Moderne nennt Agamben den Insassen des Konzentrationslagers ebenso wie den der Willkür der Maschinen ausgelieferten Komapatienten oder den Wissenschaftler, der mit seinem eigenen Körper experimentiert.

So gesehen, erweist sich das vermeintlich alte „Blade Runner“-Amalgam aus Film noir und Action als grundlegend neuartiges Szenario. Der Replikant tritt auf als eine „Homo Sacer“-Figur, durch deren Ausschluss aus dem Bereich des Humanen dieser Bereich sich erst konstituiert. Nicht zufällig sind falsche, gelöschte, ersetzte Erinnerungen auch eines der zentralen Motive in „Blade Runner“ ebenso wie in vielen anderen Geschichten und Romanen von Philip K. Dick.

Auf die Spitze getrieben wird die Konstruktion der Verstrickung in unauflösbare Strukturen des Wissens/Nichtwissens in Steven Spielbergs „Minority Report“ (auch nach einer Erzählung von Dick). Im Kern der Geschichte steht ein Orakel mit angeschlossener Zukunftspolizei, die das, was geschähe, griffe sie nicht ein, zur Maßgabe ihres Handelns macht.

Ganz nach Manier der Ödipus-Tragödie prophezeit das Orakel die mörderische Tat des Helden und Polizisten John Anderton, der nun sich selbst verfolgen müsste. Der Humanist Spielberg stellt freilich an der entscheidenden Stelle die Entscheidungsfähigkeit seines Helden wieder her und erlaubt ihm, aus dem Schicksalskreis der ödipalen Tragödie hinauszutreten.

Michael Winterbottoms Zukunftsversion „Code 46“ findet zu einem viel konsequenteren Ende. William Geld wird sein Leben als neuer Mensch, unbestraft und ohne Erinnerung an das Geschehene, fortsetzen können, während Maria die Bewahrung des Gedächtnisses mit der Verstoßung in die Fuera bezahlt. Die Inklusion ist durch freundliche Maßnahmen zur Herstellung einer falschen Identität erkauft, die Verweigerung der Selbstaufgabe hat dagegen nicht länger den disziplinarischen Einschluss zur Folge, sondern den Ausschluss aus den privilegierten Zonen.

„Code 46“ ist also klug – aber leider nicht klug genug. Insgesamt hält sich der Film dann doch immer an ein paar Fronten zu viel auf und leidet darunter, dass die kuriose Idee, den leidenschaftsblinden Liebhaber mit Tim Robbins zu besetzen, beim besten Willen nicht aufgeht.