Das traurige Ende von La Latina

LADENSTERBEN In Madrid schließen alteingesessene Geschäfte. Das Zentrum verliert an Flair, Besonderheit und Stadtgeschichte

„Der Busen ist die größte Problemzone vieler Frauen“

Ana Cascajero

VON EDITH KRESTA
UND UTE MÜLLER

Ana Cascajero ist es gewohnt, dass sich Menschen an ihrem Schaufenster die Nasen platt drücken und einen Lachanfall bekommen. Dort liegt ein fleischfarbener Büstenhalter. Umfang: 2,60 Meter. Daneben die passende Unterhose – sie erinnert an ein Zirkuszelt. Ana Cascajero verkauft Leibwäsche, die den üppigen Frauenskulpturen des kolumbianischen Bildhauers Fernando Botero gerecht würde. Noch. Denn an der Ladentür prangt das „Liquidación“-Schild. Das Wäschefachgeschäft „La Latina“ an der gleichnamigen U-Bahn im Madrider Zentrum gehört zu einer aussterbenden Art. Ein unprätentiöses Fachgeschäft für Dicke mit grundsolidem Angebot und hohem Gebrauchswert, der in Zeiten der Ex-und-hopp-Massenproduktion aus der Mode gekommen ist.

Hinter der hölzernen, mit Schnitzereien verzierten Theke ordnet Ana Kleidungsstücke. Manche wurden in Schubladen vergessen: Mieder und Korsetts aus den dreißiger Jahren, die heute im Sonderangebot zu erstehen sind. „Die blauen und fliederfarbenen Mieder zum Schnüren werden gerne als Miniröcke gekauft. Und Transvestiten sind ganz scharf auf unsere Brokatmieder“, erzählt Ana. Neben diesen erotisch-exotischen Antiquitäten wirken die Nachthemden und Jogginganzüge in Größe XXXXL bodenständig. „Zu uns kommen Leute mit einem Brustumfang von bis zu 235 Zentimetern. Der Busen ist die größte Problemzone vieler Frauen. Manche unserer Kundinnen wiegen 200 Kilogramm. Es sind Menschen mit riesigen Komplexen“, erzählt Ana.

Zwei Damen betreten das Geschäft und lassen sich Nachtwäsche zeigen. Im „La Latina“ fühle sie sich gut aufgehoben, meint die Ältere der beiden Freundinnen. In den extragroßen, der Leibesfülle entsprechenden Kabinen bekommen Kundinnen die Aufmerksamkeit, die ihnen anderswo verweigert wird. Und Näherin Pepa, die tagtäglich im Hinterzimmer an der Nähmaschine sitzt, passt jedes Mieder, jeden Büstenhalter an Ort und Stelle an. „Viele unserer Kundinnen, die von weit her kommen, müssen ja noch am selben Tag wieder heimreisen“, erklärt sie.

Im Jahr 1925 hatten Anas Großeltern das Geschäft gegründet. Der nahe gelegene Markt „Mercado de la Cebada“ war Anziehungspunkt für Städter, aber auch für die Bauern vom Land. „Gürtel, Taschen, Strümpfe und Handschuhe gab es damals, erst nur Damen-, später auch Herrenmode. Gefeilscht werden durfte nicht, das verbat das Schild „Precio fijo“ (Festpreis), das bis heute auf einer Säule in der Ladenmitte prangt. Die Idee, sich auf Übergrößen zu spezialisieren, kam eher zufällig. Man belieferte ein nahe gelegenes Kloster, und den gut genährten Nonnen wollte so gar nichts passen. Da hatte Anas Mutter Gloria die Idee, nur noch Unterwäsche für Dicke zu verkaufen. Mit Erfolg.

Mit „La Latina“ stirbt ein weiteres Stück Madrider Stadtgeschichte und ein alteingesessenes Geschäft, das den Flair, die Besonderheit des Madrider Zentrums ausmacht. Neben Ana hat die „Zukunft“ schon begonnen. Während Touristen sorglos bummeln, verdrängen chinesische Importläden, Franchiseketten und Telefonshops die alten Geschäfte. Die Wirtschaftskrise, die Spanien besonders hart trifft, beschleunigt den Prozess. Ana kann die Investitionen für den überfälligen Umbau nicht alleine stemmen, und das Madrider Rathaus kümmert sich nicht um die bedrohten Geschäfte. So geht der Ausverkauf weiter, ohne dass jemand ihn stoppt, und Madrid wird um ein schönes Geschäft ärmer. Es wird nicht das letzte sein.