Dieser Papst stirbt nie

Unbedingte Verehrung bei allerdings stark selektierter Folgsamkeit: Über den seltsam loyalen und zugleich eigensinnigen Umgang der polnischen Mehrheits- und Konsumgesellschaft mit ihrem größten Staatsmann, mit Papst Johannes Paul II.

Natürlich lebt von den Polen kaum jemand so, wie es der Papst von ihnen fordert

von STEPHAN WACKWITZ

Die Angst um den schwerkranken Johannes Paul II., die Erleichterung, wenn eine der immer häufigeren und beängstigenderen Erschöpfungskrisen – wie eben jetzt – vorübergegangen ist und er sich wieder, wie hinfällig auch immer, öffentlich zeigt, die Freude über die manchmal überraschenden, fast verblüffenden Rüstigkeits- und Stimmfestigkeits-Comebacks in den letzten Jahren („Haben Sie den Papst im TV gesehen? Es scheint ihm wieder viel besser zu gehen!“) – solche Gefühle, Solidaritäten und Rührungen ergreifen in Polen auch einen kirchlich ganz indifferenten und nicht einmal seine eigene Observanz besonders eifrig praktizierenden deutschen Protestanten wie mich.

Es ist nicht nur der Spaß, den man an dem schon fast an Woody Allen erinnernden Witz des Papstes hat, er lese schon wieder die Zeitungen, weil er sich ja über seinen Gesundheitszustand informieren müsse. Es ist die Angst um den letzten der großen demokratischen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts, der nicht nur noch lebt, sondern auch noch im Amt ist. Seine Faszination ähnelt der, die von Winston Churchill ausgeht (mit dem Johannes Paul II. übrigens auch das Talent zum öffentlichen Humor in höchster Staatsstellung und in den ernstesten Lagen gemeinsam hat). Man kommt über der Lektüre seiner Biografie von Jonathan Kwitny oder auch über der einsichtsvollen und sympathischen Würdigung von Jan Ross von 2000, die sich an die Gebildeten unter seinen linksliberalen deutschen Verächtern wendet, aus einem ganz ähnlichen Staunen nicht heraus wie über „The Last Lion“ von William Manchester.

Wie hat er es geschafft, fragt man sich, in einem Meer des Appeasement den totalitären Feind nicht nur zu erkennen (viele wussten, was Karol Woityła und Winston Churchill wussten), sondern auch, von einem wirklich überweltlich wirkenden inneren Radar geleitet, keinen Moment Ruhe zu geben und nachzulassen, bis dieser Feind vollständig besiegt war. Hinterher scheint es vollkommen selbstverständlich und fast leicht gewesen zu sein. Aber vorher hat es oft genug wie Donquichotterie ausgesehen, wie gefährlicher Starrsinn.

Wahrscheinlich kann man eine solche Zähigkeit und diese Art von Radar nur ausbilden, wenn man aus einer historisch gewordenen oder durch eine Randlage geschützten, fremden Bildungswelt kommt. Churchill war der letzte Eminent Victorian. Er trat dem Menschheitsfeind mit der Sicherheit entgegen, die einem eine lange Reihe adliger Vorfahren gibt, die sich im Parlament oder auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet haben. Die Welt der Bildung, des Stolzes, der Sicherheit und des Widerstands, aus der Johannes Paul II. kommt, ist genauso alt. Auch sie ist adelig geprägt, dabei aber viel offener für alle anderen Klassen und Schichten der Nation als die britische Verbindung von Adel und Demokratie. Es ist eine Art zweite Moderne, die in Polen während der Jahrhunderte der Teilung entstanden ist aus dem gemeinsamen Kampf der katholisch geprägten Bildungsschicht, des französisch-revolutionär inspirierten Adels und der von allen Abenteuern der europäischen Avantgarde periodisch infizierten künstlerischen Bohéme des 19. und 20. Jahrhunderts.

Nach dem Krieg ist diese zweite Moderne (sie wird, sobald wir uns ein bisschen besser kennen lernen, als der polnische Beitrag zur europäischen Kultur verständlich werden) in dem liberalen, unglaublich beschlagenen und belesenen, freundlichen, witzigen, dabei hochmoralischen und sittenstrengen Milieu katholischer Bildung aufgegangen, das sich seit den Fünfzigerjahren um einige Fakultäten der Krakauer Jagiellonen-Universität, um die Krakauer Zeitschriften Tygodnik Powszechny und Znak, um das „Stary Teatr“, die Cafés, Jazzklubs und Kabaretts des Krakauer Hauptmarkts formiert hat. Seit dem Untergang der jüdischen Bildungswelt im nationalsozialistischen Völkermord ist in Deutschland liberale Zivilisation eigentlich nur als säkulare denkbar. Wir bekommen so etwas wie einen Schock, wenn wir den jungen Polen, mit dem wir eben noch eine hoch kompetente Diskussion über Stanley Fish geführt haben, in der nächsten Kirche verschwinden sehen, weil es zur Vesper geläutet hat.

Aber der welthistorische Sieg gegen eine unwahrscheinliche Übermacht, den dieses Milieu in der Gestalt und im politischen Wirken Johannes Paul II. vor noch nicht zwanzig Jahren über eine totalitäre Weltmacht davongetragen hat, ist ja nicht wegzudiskutieren. Je früher wir den beschriebenen Schock hinter uns bringen und uns auf ein ernsthaftes Gespräch mit diesem Milieu einlassen, desto lehrreicher für uns. Ohne ernsthaften Streit wird es nicht abgehen. Auch das zeigt das epochale Wirken des polnischen Papstes. Die christliche Moderne unterscheidet sich von der liberalen vor allem in ihrem Begriff dessen, was Freiheit ist. Wir Liberalen werden unseren formalen Freiheitsbegriff in dieser Diskussion verteidigen und vielleicht genauer formulieren müssen. Besonders was die Sexualmoral, die Stellung zu Familie und Ehe, die gay rights, die Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und der Stammzellenforschung angeht, werden wir uns wohl darauf einigen müssen, dass wir uns nicht einig werden.

Das Wichtigste, was eine liberale Gesellschaft besonders in Deutschland von der polnischen Moderne lernen kann, ist vielleicht der seltsam loyale und zugleich eigensinnige Umgang, den die Mehrheitsgesellschaft hierzulande mit ihrem größten Staatsmann und mit den strengeren Forderungen jenes theologisch geprägten Kernmilieus pflegt.

Wenn es so etwas wie unbedingte Verehrung bei stark selektierter Folgsamkeit gibt, wäre das vielleicht die richtige Formulierung für das Verhältnis zwischen der Kirche und der großen Mehrzahl vor allem der jungen Polinnen und Polen, die (wie wir Modernen überall sonst auch) sich so durchwursteln durch Konsumgesellschaft, sexuelle Revolution, MTV, den Wertezerfall und das übrige Sodom und Gomorrha, das uns nun einmal aufgegeben ist und in dem wir unser Leben führen, unsere Kinder groß kriegen und unseren Spaß haben wollen, ohne uns und anderen unnötig wehzutun.

Dass Johannes Paul II. gerade bei deutschen Intellektuellen im Ruch eines antiliberalen Gottseibeiuns steht, hängt mit der deutschen Sehnsucht nach systematischer Konsistenz theologischer und sonst theorieförmiger Aussagen zusammen. Von nicht hintergehbaren oder evidenten abstrakten Grundaussagen, so hätte es diese Sehnsucht gern, führt ein logisch streng kontrollierbares Gefüge von Aussagen und Schlüssen zu theoretisch begründeten und deshalb moralisch allgemein zwingenden Entscheidungen in konkreten Anwendungssituationen. Die linke deutsche Theoriefolklore versteht seit 1968 nicht mehr so recht, dass einzelne Gedankengebäude zwar so funktionieren, nicht aber eine liberale Kultur als Ganzes. Liberale Kultur hat nicht ein konsistentes Gedankengebäude. Sondern eine ganze Stadt davon. Und in deren Mittelpunkt steht neben dem Rathaus seit Jahrhunderten die Kirche. Dass die katholischen Vorstellungen über Leben und Tod in der beschriebenen Weise systematisch aus einander hervorgehen, heißt ja noch lange nicht, dass jeder sich diesen Vorstellungen lückenlos unterordnen müsste. Es heißt aber auch nicht, dass die katholische (oder evangelische, oder wahabitische) Sicht der Welt endgültig irrelevant ist.

Man muss eben vom eigenen Haus ins Gotteshaus, ins Rathaus und meinetwegen auch mal in ein weniger gut beleumdetes Haus wechseln, jede der dort jeweils herrschenden Wahrheiten und Konsistenzen ernst nehmen können und doch derselbe bleiben, nämlich der freie, selbstbewusste Bürger einer einzigen Stadt. Und der glaubt nun mal nicht daran, dass, wie Isaiah Berlin diese falsche Vorstellung von Demokratie charakterisiert hat, „alle positiven Werte, an die die Menschen geglaubt haben, am Ende miteinander verträglich sein oder sogar auseinander folgen müssen“. Natürlich lebt von jenen jungen Polinnen und Polen kaum eine oder einer so, wie es der Papst von ihnen fordert. Trotzdem finden sie es verständlich, verehrungswürdig und richtig, dass er diese Forderungen aufstellt. „Einer muss es doch sagen. Was willst du, er ist schließlich der Papst!“ Diese Haltung ist, finde ich, sehr durchtrieben und menschlich und ein gutes Beispiel dafür, wie auch wir Westler und vor allem die konsequenzsüchtigen Deutschen den „Sinn und den Geschmack für das Unendliche“ (wie Friedrich Schleiermacher das religiöse Empfinden definierte) wiederfinden könnten, ohne der Moderne den Rücken zu kehren.

Vor zwei Jahren im Sommer fragte ich einen jungen Jesuiten, mit dem ich damals morgens joggte und abends manchmal Fahrrad fuhr, irgendwo zwischen Krakau und Wadowice auf einer jener endlosen, baumbeschatteten, praktisch autofreien Landstraßen, die sich durch Südpolen winden und auf denen man nach einer halben Stunde keine Sorgen mehr hat, außer der, in ein Schlagloch zu fahren, was in der Kirche wohl passieren werde, wenn Johannes Paul II. einmal nicht mehr sei. Er sah mich im Fahren kurz an. Dann grinste er, wie nur junge Jesuiten grinsen können und sagte: „Der stirbt nie.“ Ich glaube, das stimmt.