Wo bleiben die Unruhen?

KRISENDEMOS Warum die Deutschen wenig protestieren und warum sich das ändern könnte

BERLIN taz | Politische Unruhen seien im Anmarsch, behauptete DGB-Chef Michael Sommer Anfang des Jahres. Was ist dran an der Warnung? Stehen uns heftige Aufstände krisengeschüttelter Bürgerinnen bevor? Bisher: bescheidene Streiks bei Opel, resignierte Trauer bei Karstadt-Mitarbeiterinnen, junge Berufseinsteigerinnen ohne Perspektive, aber auch ohne Wut im Bauch. Gerade mal 35.000 Leute haben es zu den Krisendemos im März dieses Jahres geschafft. Zum Vergleich: Gegen die Hartz IV-Reformen gingen 2004 eine halbe Million Menschen auf die Straße.

Was ist los mit den Deutschen, herrscht hier Protestmüdigkeit? „In Frankreich demonstriert man zwar heftiger, aber nicht unbedingt mehr oder kontinuierlicher als in Deutschland“, sagt der Soziologe Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin. Der Protest der Deutschen sei kleinteiliger und parzellierter. Heftige Protestwellen wie beispielsweise 2006 in Frankreich kennt man hier eigentlich nicht.

Eine mögliche Ursache ist die politische Struktur: Im Vergleich zu Frankreich verhindern in Deutschland mehrere Regierungsebenen, dass die Bürgerinnen die „Schuldigen“ klar identifizieren können. Hinzu kommt, dass die Regierung mit Rettungsgeldern nicht spart.

Das wirkliche Ausmaß der Krise wird wahrscheinlich erst nach der Wahl deutlich. Möglicherweise ist die deutsche Widerstandskultur gar nicht so sanft, wie sie derzeit scheint. Der absehbare wirtschaftliche Abschwung führt vielleicht dazu, dass sich die protestierenden Kräfte in Deutschland stärker konzentrieren werden. Der heutige Bildungsstreik von Schülerinnen, Auszubildenden und Studentinnen ist ein möglicher Vorbote dieser Entwicklung.ISABEL PFAFF, NURIA GRIGORIADIS