Im Schatten des Booms

GENTRIFIZIERUNG In St. Georg vertreiben Vermieter mit rabiaten bis kriminellen Methoden Mieter und alt eingesessene Geschäfte. Der Charme des Viertels leidet

Es gibt nicht oft die Gelegenheit, den Kapitalismus an der Arbeit zu sehen. Unbehelligt von Politik und Polizei, kriminell und gierig

VON ROGER REPPLINGER

In einigen Geschäften in der Langen Reihe auf St. Georg kriegt der Kunde zu Noten und Gitarre, Marzipan und Majoran einen Zettel, der erklärt, dass der Laden umzieht oder einen neuen Besitzer hat. Rüdiger Foldt etwa, „Tee, Gewürze, Kräuter und Naturspeisewaren“, hatte seinen Laden 27 Jahre in der Langen Reihe 97. Er zieht Ende Juni aus, verkauft noch auf Wochenmärkten, auch dem in der Langen Reihe, und übers Internet.

Hausbesitzer Andreas Giercke hatte Foldts Miete um 30 Prozent erhöht. Giercke war reich und wurde reicher, als am 2. Dezember 2005 eine Adventskerze das Haus des Uhren- und Schmuckunternehmens Becker am Ida-Ehre-Platz in Brand setzte.

Der Wirtin des „Kupferkrugs Helga Ehret schmeichelte Giercke, der an der Langen Reihe wohnt, im Hamburger Abendblatt: „Helga macht die besten Frikadellen“ – und schickte die Kündigung. „Da hat für viele ein Leben aufgehört“, sagt Stammgast Manfred Moeller.

Auch die Schule Koppel 96/98, von der Stadt Hamburg im Höchstgebotsverfahren verkloppt, gibt’s nicht mehr. Wer eine der dort entstandenen Eigentumswohnungen haben wollte, musste bis zu 6.000 Euro pro Quadratmeter anlegen. Die Schulturnhalle wurde zum Restaurant, „in dem Schickimickis schlecht essen“, wie Moeller sagt. Das Projekt geht aufs Konto von Karl Heinz Ramke, Geschäftsführer der Immobilienfirma Haueisen. Wie kein anderer hat er den Wandel in der Langen Reihe betrieben: „Café Central“, „Restaurant Cox“, Hotel „Sarah Petersen“. Die Hamburger Morgenpost zitiert Ramke mit dem Satz: „Ich habe das Viertel wachgeküsst.“

Gewürzhändler Scheib beobachtet die Entwicklung mit Gefühlen, die wie sein Sortiment sind. Gemischt: „Das Kaufverhalten ändert sich. Es wohnen hier nur noch wenige Familien die kochen und Gewürze brauchen. Es kommt viel Luxusscheiß in die Straße, den keiner braucht.“ Eine Filiale der Supermarktkette „Biocompany“ soll in die ehemalige Videothek ziehen. „Mit deren Preisen kann ich nicht mithalten“, sagt Scheib.

Der „Musikkeller“, Lange Reihe 94, macht zu, „Elbgold“, der kleine Juwelierladen von Rüdiger Schmidt nebenan, ist es schon. Der Quadratmeterpreis für den Optiker, der dort wohl einzieht, soll bei rekordverdächtigen 100 Euro liegen. Im Schnitt werden in der Langen Reihe zwischen 30 und 60 Euro gezahlt. Die Furtenbachers vom „Musikkeller“ ziehen in den Alten Steinweg am Großneumarkt. Der Laden war 43 Jahre hier. Der Vater von Michaela Furtenbacher fing als Trödler an, die Tochter spezialisierte sich 1982 auf Musikinstrumente. Die Miete, elf Euro pro Quadratmeter, war günstig – jetzt sollte sie auf 38 Euro steigen. „Wir können keine 30, keine 20 zahlen“, sagt Günter Furtenbacher. Frau Furtenbacher bat den Hausverwalter, sich den Laden doch mal anzugucken, „bevor sie ihn kaputtgemacht haben“.

Die Furtenbachers sehen seit Jahrzehnten, wie sich die Lange Reihe verändert. Kein Fischhändler mehr, kein Fleischer, Geflügelladen, Tante Emma-Laden, Grünhöker, Handwerker.

Ingrid Ness-Krohn, Mitarbeiterin von Dr. R. Wohlers, Antiquariat und Buchhandlung, sieht eine „Umstrukturierung der Kundschaft“. Junge Familien, die Bücher lesen, ziehen weg, „Reiche ziehen hierher, die nicht lesen, oder bei Amazon bestellen“. Die Miete für die Räume ist gestiegen, „aber akzeptabel“, so Ness-Krohn. Die Wohnmieten im Haus sind bis 2011 gebunden. „Was dann kommt, weiß keiner“, sagt sie.

Ein starker Impuls für die Veränderung der Langen Reihe ging von der Schließung des Kaufhauses „1000 Töpfe“ aus. Das Töpfe-Stammhaus von 1949, Lange Reihe 104 bis 118, ist seit Februar 2009 zu. Am 30. Januar 2009 wurde den Mietern des Hauses Knorrestraße 9 zum 28. Februar gekündigt. Das ehemalige Merck-Stift, das einst der Amalie-Sieveking-Stiftung gehört hatte, war von der Erbengemeinschaft Kertscher erworben worden und war nun Teil des Töpfe-Areals. Begründung für die kurze Kündigungsfrist und daraus resultierende Räumungsklagen: Es handele sich hier um ein Studentenwohnheim. Einige Mieter, sechs von 24 harren aus, wehren sich vor Gericht gegen Räumungsklagen. Michael Joho, Vorsitzender des Einwohnervereins von St. Georg, der die Mieter unterstützt, fürchtet, „dass die Richterin die Version vom Studentenwohnheim glaubt“.

Joho weiß, dass die Brüder Peter und Marcel Kertscher das Haus mieterfrei an die aktuellen Eigentümer, die GESA Bau Neuwulmstorf GmbH, weiterveräußert haben. Verwaltet wird die Immobilie von der Firma Savills. Weil die Mieter sich wehren, wurde, wie die Stadtteilzeitung Lachender Drache schreibt, am 6. Mai in einer Blitzaktion „die gemeinschaftliche Küchenzeile rausgerissen und die Waschmaschine entfernt, der Gemeinschaftsraum verschlossen, ein Fenster zerbrochen, ein Eingangstürschloss ausgewechselt sowie für kurzfristigen Stromausfall gesorgt“. Erst auf nachdrücklichen Protest wurden die „Schweinereien“ rückgängig gemacht.

Wer immer ein Interesse am Auszug der Mieter hat, griff zu einem auf St. Georg bewährten Mittel: Am 21. Mai kurz nach vier Uhr früh hörten Anwohner einen Knall, Flammen loderten an der Wand des Hauses Knorrestraße 7 empor. Es steht im Hinterhof der Häuser Knorrestr. 5 und 9 neben dem „1000 Töpfe“-Gelände.

Eine Augenzeugin, so der Lachende Drache, habe gesehen, wie jemand etwas Brennendes in einen Müllcontainer geworfen hatte. Die Polizei tappt bei der Aufklärung dieser und anderer Brandstiftungen in der Langen Reihe, etwa der des Jahres 2005 in Nummer 57/59, im Dunkeln.

Es gibt ja nicht oft die Gelegenheit, den Kapitalismus an der Arbeit zu sehen. Unbehelligt von Politik und Polizei, kriminell und gierig. Mitunter zu gierig. Es gibt die „Caffè Bar Rosso“, Lange Reihe 52, die seit Monaten leer steht. Es steht überhaupt einiges leer. Vieles von dem, was mit Blick aufs große Geld entsteht, wird kaputt gehen. Aber vorher geht das, was da war, kaputt.