Der sich zum Tier macht

Ein Stimmungsbild von Puerto Rico Anfang der Sechzigerjahre, von der Goldgräber-Attitüde, der Dekadenz und Langeweile: Hunter S. Thompsons Frühwerk „The Rum Diary“ zeigt mit seiner flüssigen Down-to-earth-Prosa schon den in die Sache vollkommen involvierten Gonzo in Thompson

VON FRANK SCHÄFER

Ziemlich am Ende seines drogistischen Klassikers „Fear and Loathing in Las Vegas“ steht Hunter S. Thompsons fulminante Abrechnung mit seiner Profession und Passion: „Journalismus ist weder Beruf noch Handwerk. Es ist nichts als ein billiges Asyl für Arschlöcher und Missratene – eine blinde Gasse zur Kehrseite des Lebens, ein dreckiges, nach Pisse stinkendes kleines Loch, auf Anordnung eines Bauamt-Inspektors zugenagelt, aber noch groß genug für einen Wermutbruder, sich in einer Nische am Gehsteig zu verkriechen und sich einen runterzuholen wie ein Schimpanse im Zookäfig.“ So kann man es auch sagen.

„The Rum Diary“, dieser frühe, vermeintlich verschollene, dann 1998 publizierte und erst jetzt sehr adäquat ins Deutsche übersetzte Journalistenroman, liefert sozusagen die narrative Probe aufs Exempel. Und empirisches Beweismaterial. Denn natürlich hat er das alles wieder einmal selbst erlebt, so ähnlich jedenfalls, auf die eine oder andere Weise. Thompson ließ sich Ende 1961 von dem Sportmagazin El Sportivo engagieren und verließ die Staaten in Richtung Puerto Rico. Als sich das Blatt dann immer mehr auf das verhasste Bowling konzentrierte, sah er sich nach weiteren Publikationsmöglichkeiten um, schrieb Werbebroschüren oder für den Informationsdienst der Regierung und schließlich auch für die lokale englischsprachige Tageszeitung San Juan Star. Im Jahr darauf begann er mit seinem Roman, der ganz offensichtlich auf den Ereignissen und Eindrücken dieser ersten Monate in der Karibik basiert.

Sein Alter Ego Paul Kemp, ein früher mal draufgängerischer, jetzt eher desillusionierter und pragmatischer Reporter, flieht aus dem kalten New York ins Rum-Paradies, um bei der San Juan Daily anzufangen. Aber schon die Ankunft am Flughafen verheißt nichts Gutes: „Nach zehn Minuten halbherzigem Zuhören hatte ich den Verdacht, in ein Spekulantennest geraten zu sein.“ Die touristische Ausbeutung der Inselidylle ist in vollem Gange. Ihre Unschuld hat sie längst verloren, auch deshalb, weil das State Department es sich einiges kosten lässt, aus Puerto Rico ein „Musterland in der Karibik“ zu machen, den „lebenden Beweis für erfolgreichen Kapitalismus in Lateinamerika“. Und die schon reichlich marode Daily, geführt von einem konvertierten Exkommunisten, der sich und den anderen jetzt stets seine ideologische Besserung unter Beweis stellen muss, schreibt schön auf Linie. Es ist ein Drecksblatt, wie Kemp bald erkennen muss, die Hälfte der Redaktion besteht aus einem Haufen verkommener, versoffener Schnorrer, die von ihrem Job nichts verstehen – der Rest kann zumindest eine Zeitung machen. Sala zum Beispiel, der Bildjournalist mit künstlerischen Ambitionen, mit dem sich Kemp sofort anfreundet, und Yeamon, der junge, ungebärdige, ein bisschen durchgeknallte Renegat, der Kemp früher selbst mal war – und in dem sich auch Thompson ironisch spiegelt. Von ihm stammt der einzige Artikel, der etwas taugt, eine O-Ton-reiche Reportage über die Emigrationsbewegung der armen Puerto-Ricaner. Aber weil die den Mythos vom Inselparadies so derb entlarvt, wird sie sogleich aus dem Blatt gekippt. Gemeinsam saufen sie Abend für Abend ihren Frust weg, bekommen auch schon mal Prügel von den schwarzen Einheimischen, weil sie einmal zu oft den arroganten „Gringo“ rauslassen, stürzen sich in einen karibischen Karneval – und dann ist da auch immer noch Yeamons Freundin Chenault, ein fatales Weib, das nicht nur Kemp den Kopf verdreht, aber vor allem dem.

In „The Rum Diary“ klingt Thompsons Diktion noch etwas zurückhaltender, aber er versetzt auch hier schon die fiktive Story mit Reportagefermenten, und so entsteht diese Gonzo-typische flüssige, herzhafte Down-to-earth-Prosa. Man bekommt ein schönes, anscheinend authentisches Stimmungsbild von Puerto Rico Anfang der Sechzigerjahre, von der Goldgräber-Attitüde, der Dekadenz und Langeweile der sich hier breit machenden Herrenmenschen. Kein Wunder eigentlich, dass es Thompson nicht lange ausgehalten hat – immerhin haben wir so ein schnittiges Protokoll seines Hasses: „Auch wenn ich persönlich keinen vernünftigen Grund haben mag, über Spekulanten zu lästern: Der Akt des Verkaufens widert mich an. Ich hegte das klammheimliche Verlangen, einem Geschäftsmann die Fresse zu polieren, ihm die Zähne auszuschlagen und ein paar blaue Augen zu zaubern.“ Es spricht dann aber auch für Thompsons Aufrichtigkeit, dass er Kemp schließlich mit den Verkäufern gemeinsame Sache machen lässt, indem der ihnen vollmundige Werbetexte liefert.

Dass der Plot sich eher anekdotisch entwickelt, im Grunde ohne rechtes Kalkül, ist hier gar kein Manko. Thompson gelingt es so, mehr vom insularen Alltagsleben aufzusaugen. Diese ungeordnete Struktur unterstützt mithin den dokumentarischen Charakter des Romans, der nur in den Schilderungen des nächtlichen Lotterlebens wohl ein bisschen zu übertrieben Angst und Schrecken verbreitet. Hier gibt man sich zwar nur dem Suff hin, Rum und Bier vor allem, später legt der Autor in Sachen Sinnesvernebelung ja durchaus noch einen Zahn zu, aber das von Dr. Johnson entlehnte straßenweise Motto seines Hauptwerks könnte auch dieses Buch treffend einleiten: „Der, so er sich zum Tier macht, befreit sich von dem Leid, ein Mensch zu sein.“

Als Thompson auf der Promo-Tour zu „The Rum Diary“ auch bei David Letterman saß, hat der ihn gefragt, wie er das Buch denn finde. „Gut!“, soll er geantwortet haben. „Und warum wurde das Buch nicht früher veröffentlicht?“ „Es ist nicht so gut.“ Ein Temperenzler jedenfalls ist nicht aus ihm geworden!

Hunter S. Thompson: „The Rum Diary“. Aus dem Englischen von Wolfgang Farkas. blumenbar Verlag, München 2004, 284 Seiten, 18 €