Das Lachen des Tricksters

Der Beleidigte rückt auf in die Sprecherposition: Theo van Gogh war kein neurechter Tabubrecher, sondern vielmehr ein Provokateur, dessen Respektlosigkeit die Diskurse durcheinander brachte

VON CRISTINA NORD

Als Feridun Zaimoglu Mitte der 90er-Jahre durch die Lande fuhr und junge Deutschtürken interviewte, führten die daraus entstehenden Bücher „Kanak Sprak“, „Abschaum“ und „Koppstoff“ einen bis dato unbekannten Ton in die deutsche Literatur ein. Die Schönheit dieser Texte – Zaimoglu nannte sie Protokolle – rührte zu einem großen Teil daher, dass sie virtuos die Kunst der Schmährede betrieben. Dabei entwickelte sich ein Neobarock der Beschimpfung, dessen Witz seinesgleichen suchte. In „Koppstoff“ etwa lästerte eine der Sprecherinnen über herkunftsdeutsche Feministinnen: „Was faselst du deutsches Liebchen? Ein Bein im Bürgerhaus, ein Bein im Schwangerschaftunterbrechen, heute ganz radikales Frontkeckchen und morgen, viel früher schon, Singleschnepfe, und hast vier Altbauzimmer für dich und den Wandschrank mit Lilaschokoagitpop.“

Es ist dies nur eine Passage aus vielen; Wortschöpfungen wie „Toskana-Arschfickiges“, „Weinkenneriges“ oder „Bürgerdoofzappeliges“ finden anderswo Verwendung. Zaimoglus respektlose Rede war seinerzeit Teil einer emanzipatorischen Politik. Die Migranten, über die jahrzehntelang geredet wurde, redeten selbst, und was dabei herauskam, war wenig schmeichelhaft für die Mehrheitsgesellschaft – gerade für die Teile der Mehrheitsgesellschaft, die sich den Minderheiten als offen gegenüber begreifen wollten. Zaimoglu provozierte vor allem diejenigen, die sich auf ihr Wohlwollen viel einbildeten und zu deren politischer Agenda es gehörte, ein nicht ausgrenzendes Sprechen zu pflegen, das sich an keiner Stelle des Rassismus und des Sexismus schuldig machte. Gegen solche Formen der Reinhaltung setzte Zaimoglu seine Maßlosigkeit; und das war produktiv, weil es zur Diskussion einlud.

In einem schönen Essay von Jean Fisher – es heißt „Zu einer Metaphysik der Scheiße“ und findet sich im Katalog zur letzten Documenta – wird ein solcher Sprecher als derjenige beschrieben, „der mutwillig ein Rauschen erzeugt, um ein neues Beziehungsmuster ins Leben zu rufen“. Seine Funktion liege „nicht in der Konfliktlösung, sondern in der Entfaltung von Komplexität“. Eine Beleidigung räumt das Problem zwar nicht aus der Welt, aber sie öffnet einen neuen Rahmen, es zu diskutieren.

Theo van Gogh hat Feridun Zaimoglus Gabe nicht besessen. Während dieser die Beleidigung in halsbrecherische Formulierungen kleidete und so die Möglichkeit buchstäblicher Lektüre ausstrich, neigen van Goghs Kolumnen zur rohen Beschimpfung: „Und ich frage mich, wie lange Autochtone noch willkommen sind in Amsterdam“, heißt es ressentimentgeladen. Dieser Tonfall macht es scheinbar leicht, van Gogh einzuordnen: nämlich dort, wo die neuen Rechten sich tummeln. Deren liebste Formel lautet: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“; in Anschlag gebracht wird sie, wo man die Diskurshoheit der politischen Korrektheit wittert. Im Augenblick hat diese Formel Konjunktur, gilt es doch zu konstatieren, was man immer schon wusste: dass das abendländische Europa und die muslimischen Einwanderer nicht zusammenpassen. Das ist stumpf und reflexhaft, hat von den konkreten sozialen Schieflagen in, sagen wir, Berlin-Neukölln keinen Schimmer und versagt zudem als Instrument der Analyse, wenn es gilt, den islamistischen Fundamentalismus als Ideologie zu diskutieren.

Nur: So angebracht die Skepsis gegenüber den neurechten Tabubrechern ist, so tut man Theo van Gogh doch Unrecht, wenn man ihn in deren Ecke stellt. Allein schon, weil dieser Provokateur, der marokkanische Migranten gern „Ziegenficker“ nannte, mit „Cool“ einen sehr zärtlichen Film über junge Holländer marokkanischer Herkunft drehte, der vor allem seiner Affinität zum Rap wegen besticht und sich damit die beleidigenden Sprechakte juveniler Drop-outs einverleibt.

Was also wäre, wenn van Gogh zu jenen Provokateuren zählte, deren Respektlosigkeiten die Diskurse durcheinander bringen, so wie früher der Narr der symbolischen Ordnung spottete? Wenn er – hierin dem jungen Zaimoglu verwandt – die Knoten in den jeweils sauber getrennten Diskurssphären sichtbar machte? Jean Fisher nennt einen solchen postmodernen Narren Trickster und misst ihm zwei maßgebliche Eigenschaften zu: „Die eine ist sein anscheinender Mangel an Moral nach dem Kodex der ,feinen Gesellschaft‘. Der Trickster ist ein unverbesserlicher Lügner, Betrüger, Dieb, Wahrsager, Erotomane, Verwandlungskünstler, Humorist, Seher, Bricoleur und Agent provocateur und bei all dem unersättlich. Der Trickster privilegiert eine Achse der Körperöffnungen, die Essen mit Scheißen und Sex verbindet, und schließt alle durch ein respektloses, unflätiges Lachen zusammen. […] Zum Zweiten fungiert der Trickster traditionell als Vermittler und Übersetzer zwischen der menschlichen Sphäre und der göttlichen oder zwischen verschiedenen Sprachen und diskursiven Systemen.“ Die Frage an van Gogh lautet nicht: Wie rassistisch, wie antisemitisch war dieser Mann, sondern: Könnte seine maßlose Sprecherposition zwischen Systemen vermitteln und also produktiv sein für eine emanzipatorische Politik?

Nun steht man zunächst vor dem Problem, dass ein Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft vor dem Hintergrund eines Machtgefälles agiert, sobald er auf Minderheiten schimpft. Die Beleidigungen, die Zaimoglus Sprecher und Sprecherinnen ausstoßen, sind aus einer Position der Ausgrenzung heraus formuliert. Bei van Gogh ist das anders. Nur: Wer an dieser Stelle der Argumentation verharrt, essenzialisiert die politische Situation, die es zu überwinden gilt. Und er setzt voraus, dass Mehrheit und Minderheit klar voneinander abgegrenzte Gruppen sind. Wer mit dem Verweis auf das Machtgefälle darauf drängt, dass Beleidigungen gegen eine Minderheit nicht artikuliert würden, träumt von etwas anderem als einer offenen Gesellschaft. In einer seiner Kolumnen greift van Gogh einen Parlamentsabgeordneten von der Grün-Links-Partei an. Mohammed Rabbae, schreibt van Gogh, habe „Stückeschreiber und Kabarettisten“ gebeten „zu schweigen, wenn es um die islamistischen Mitmenschen geht. Also keine Witze über Bin Laden, kein Spaß über den Propheten.“ Van Gogh fährt fort: „Wer Allah und ganze Bevölkerungsgruppen vor Witzen und ironischen Kommentaren schützen will, hat nicht begriffen, dass die größte Gleichberechtigung in der Fähigkeit besteht, auch das Allerheiligste einer Gruppe auf den Arm nehmen zu dürfen.“

Das hat viel vom Pathos der freien Meinungsäußerung, das die eigene conditio sine qua non nicht mitreflektiert: nämlich dass es Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist, der Rechte und Sprecherpositionen ungleich verteilt. Und dennoch: Macht es wirklich einen so großen Unterschied, ob Salman Rushdie, Ayaan Hirsli Ali oder Theo van Gogh Islamisten der Lächerlichkeit preisgeben? Humor ist nach wie vor eine wunderbare Waffe, ganz so, wie sie der russische Literaturtheoretiker Michail M. Bachtin einmal beschrieb: „Das Lachen befreit nicht nur von der äußeren Zensur, sondern vor allem vom großen inneren Zensor, von der in Jahrtausenden dem Menschen anerzogenen Furcht vor dem Geheiligten, dem autoritären Verbot, dem Vergangenen, vor der Macht.“ Wenn man „Submission 1“, van Goghs Kurzfilm über misshandelte muslimische Frauen, etwas vorwerfen kann, dann weniger, dass er den Blick auf nur von transparenten Schleiern bedeckte Haut freigibt, sondern vielmehr, dass er sich den selben heiligen Ernst der Religion zu Eigen macht.

Entscheidend ist, dass die Beleidigten die Möglichkeit zu antworten hätten, so sie sich auf den Diskurs einließen. In ihrem Buch „Hass spricht“ formuliert Judith Butler es so: „Während also die verletzende Anrede ihre Adressaten scheinbar nur festschreibt und lähmt, kann sie ebenso eine unerwartete, ermächtigende Antwort hervorrufen.“ Wenn es für die Konstituierung eines Subjekts maßgeblich ist, dass dieses Subjekt angesprochen wird, dann gewinnt der Beleidigte die Möglichkeit, sich als Subjekt zu artikulieren. Denn auch die Beleidigung ist eine Form der Anrufung. Und wer beleidigt, muss diesen Nebeneffekt in Kauf nehmen. Ganz gegen seine Absicht demütigt er sein Gegenüber nicht, vielmehr rückt dieses Gegenüber selbst auf die Sprecherposition vor.

Es geht hier gleichsam um eine paradoxe Intervention: Man bewirkt das Gegenteil von dem, was man auf den ersten Blick bewirken will. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es hierfür – neben Christoph Schlingensiefs glücklichen Narreteien – ein berühmtes Beispiel: Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Es wurde überall und vor allem von dem konservativen Historiker Joachim C. Fest als Paradebeispiel linken Antisemitismus bewertet. Doch lässt es sich weniger als antisemitisch lesen denn als der Versuch, durch die Überzeichnung, durch die Verwendung des antisemitischen Stereotyps „reicher Jude“ die Lügen westdeutscher Vergangenheitsbewältigung aufzudecken. In den 70er-Jahren war man in der Bundesrepublik weit davon entfernt, Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu übernehmen; gegen ihre Monstrosität wurde Normalität behauptet, und zugleich war es gerade unter Konservativen verbreitet, eine philosemitische Haltung zur Schau zu stellen.

So entstand ein Antisemitismus zweiter Ordnung: der „Antisemitismus wegen Auschwitz“ – jene perfide Logik, der zufolge die Deutschen es ihren Opfern nicht verzeihen wollten, dass sie diese umgebracht hatten. „Der Müll, die Stadt und der Tod“ ist ein Stück, das diesen Zusammenhang kenntlich macht – ähnlich wie der krude überzeichnende Exploitation-Film die Verhältnisse besser zum Vorschein bringt als das subtilere A-Movie. „Was Fassbinder tat“, notiert denn auch der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser, „wäre dann nichts Verwerflicheres gewesen, als ein gefährlich aufgeladenes, aber frei flottierendes Hass-Idiom und einige drastische, aber legitime Techniken des Welttheaters dazu zu benutzen, der deutschen Öffentlichkeit, die er auf diese Weise zu erreichen hoffte, einen Spiegel vorzuhalten.“ Selbstredend löste „Der Müll, die Stadt und der Tod“ weder das Problem des Antisemitismus noch das der nicht eingestandenen Verantwortung für die NS-Verbrechen. Doch indem es Bühnenbesetzungen, Feuilletondebatten und Einlassungen von Vertretern der jüdischen Gemeinden hervorrief, eröffnete das Stück einen im deutsch-jüdischen Verhältnis bis dato unbekannten Diskursrahmen.

Ob eine respektlose Rede, eine paradoxe Intervention, ein unflätiges Lachen das erwünschte Ergebnis erzielen, darf nicht zum Kriterium ihrer Legitimität gemacht werden. Denn zwangsläufig stellen sie einen riskanten Akt dar, sie bergen die Gefahr des Scheiterns. Van Goghs Kolumen, nicht seine Filme, verharrten oft in plumper Provokation. Man kann darauf mit Worten reagieren. Wer es mit dem Messer tut, bestätigt auf die traurigste Weise, wie notwendig die Beleidigung als Möglichkeit der Rede ist.

Theo van Goghs Filme „Interview“ und „Cool“ sind bis zum 22. 12. im Berliner Brotfabrik-Kino zu sehen