Ohne Maria kein Lametta

AUS EPPSTEIN, ROTH, ALLERSBERG UND FREYSTADT BARBARA BOLLWAHN

Sie ist grün, groß und schwer. Ein Wirrwarr aus Verstrebungen, Schienen, Förderbändern, Hebeln und Knöpfen. Etiketten mit Wörtern wie „Absaugung“, „Randabfall“, „Querschweißen“ und „Etikettierung“ geben eine Orientierungshilfe im Umgang mit dem Ungetüm, das den Namen Maria trägt.

Maria ist die letzte Lamettamaschine Deutschlands. Sie steht in der Stanniolfabrik der idyllischen Kleinstadt Eppstein im Main-Taunus-Kreis. Ein Arbeiter gab ihr vor vielen Jahren den Namen – aus Liebe zu einer Frau. Und auch das Werk kann sich rühmen. Es ist das letzte Walzwerk in Deutschland, das noch Bleifolien walzt, aus denen Lametta hergestellt wird. Während immer weniger Weihnachtsbäume mit Lametta geschmückt werden und Umweltschutzverbände vor Bleilametta oder leicht entflammbaren PVC-Lametta warnen, geht in Eppstein die Produktion weiter.

Das Original, das hängen bleibt

Gerhard Blanck, ein Mann mit Schnauzer und Brille, ist Produktionsleiter in der Stanniolfabrik, in der seit 1852 Blei und Zinn plattgewalzt wird. Blanck ist 49 und Diplomingenieur für Werkstoffkunde. Einen Weihnachtsbaum ohne Lametta kann er sich nicht vorstellen. Aber er weiß, dass es ein Auslaufprodukt ist. „Seit zehn Jahren ist Lametta ziemlich out“, sagt er nüchtern. Sicher sei das traurig. Aber: „Es gibt gewisse Dinge, die überleben sich.“

Dass in Eppstein noch immer Lametta produziert wird, liegt an Maria. Sie geht nicht kaputt. Seit 30 Jahren zerschneidet die Maschine 0,025 Millimeter dünne, mit einer Zinnschicht bedeckte Bleilegierungsfolien in 1,75 Millimeter breite und 500 Millimeter lange Streifen und verpackt sie. In 75-Gramm-Verpackungen, die Mappen heißen und mit dem Aufdruck „Brillant. Das Original, das hängen bleibt“ versehen sind.

Einmal im Jahr, im April, wird die Maschine für wenige Wochen angeworfen. Über die jährliche Produktionsmenge schweigt der Produktionsleiter. Er erzählt lieber von einem kaiserlichen Reichspatent zur Lamettaherstellung von 1904 und verrät nur so viel: „Das ist nie irrsinnig viel gewesen. Heutzutage haben weniger als 0,01 Prozent aller deutschen Weihnachtsbäume noch Lametta.“ Und weil das kein Walzwerk auslastet, liegt der Schwerpunkt der Produktion inzwischen auf Hightech-Produkte. Blei- und Zinnfolien für die Röntgenfilmindustrie, für Schweißnahtprüfungen im Pipelinebau, für Präzisionskondensatoren. Weltweit.

Sollte Maria eines Tages doch einmal den Geist aufgeben, wird die Lamettaproduktion in Eppstein eingestellt. „Damit geht eine Tradition verloren“, sagt Produktionsleiter Blanck. Dann wird der Begriff Lametta nur noch blasse Erinnerung sein. Ein Eintrag im Lexikon. Lametta, Christbaumschmuck, 1. ital., Verkleinungsform von lama, Metallband, 2. lat., lamina, dünne Gewebsschicht.

Das abgepackte Lametta kommt in Verbrauchermärkte. Die Stanniolfabrik liefert aber auch loses Lametta. An Großhändler, die Weihnachtsdekorationsartikel verkaufen. Davon gibt es in Deutschland noch eine Handvoll. Merkwürdigerweise sind alle im Nürnberger Raum angesiedelt. Willi Riffelmacher ist so einer. Er führt in der dritten Generation das 1921 gegründete Unternehmen „Riffelmacher & Weinberger“ im mittelfränkischen Roth.

Riffelmacher steht in seinem Musterzimmer. Er ist 64, ein gemütlicher Mann mit weißem Haar und Stirnglatze. Das Zimmer blinkt und glitzert, dass einem ganz schwindlig wird. Über 1.500 Weihnachtsdekorationsartikel hat er im Angebot. Girlanden, Baumschmuck, versilberte Sterne aus Kupferdrähten, Kränze, Gestecke, Weihnachts- und Schneemänner, Dekorationssprays, die für Schnee und Glitzer sorgen – einfach alles, was auf, unter oder neben dem Weihnachtsbaum Platz finden kann.

Und natürlich Lametta. Aus Zinn, aus Blei und aus PVC – Riffelmacher hat alles. Auf das Plastiklametta ist er allerdings nicht gut zu sprechen. Die Anwendung sei eine Strafarbeit: „Das rutscht immer runter.“ Aber es verkaufe sich gut. Die Geschmäcker sind verschieden und Riffelmacher weiß, dass Lametta „eine Modefrage“ ist. Er würde sie mit Nein beantworten. „Wer plagt sich heute noch damit, das aufzuhängen und abzudekorieren?“, fragt er. Trotzdem hat er es im Sortiment. „Früher machte das jeder nebenbei. Lametta war ein Türöffner für den Weihnachtsmarkt.“

Als die Firma noch „Spezial-Fabrik für Lametta-Christbaumschmuck“ hieß, stellte sie ihr eigenes Lametta her. „Das hatte aber nichts mit Stanniollametta zu tun“, betont Riffelmacher. Sein Lametta bestand damals nicht aus Metallfolien, sondern aus leonischen Drähten – versilberte, vergoldete oder verzinkte Kupferdrähte- und fäden. Seit 1590 werden diese Drähte in Roth und im Nürnberger Raum hergestellt. Irgendwann lohnte sich die teure Produktion aber nicht mehr für Riffelmachers Firma. Seit dem bezieht er sein Lametta von der Stanniolfabrik Eppstein.

Stattliche 20 bis 25 Tonnen bestellt Riffelmacher jedes Jahr. Geliefert wird die Ware aber nicht ihm, sondern einem so genannten Zwischenmeister. Dessen Aufgabe besteht darin, das Lametta in Heimarbeit verpacken zu lassen.

Riffelmachers Zwischenmeister sitzt wenige Kilometer von Roth entfernt, in Allersberg. Helene und Oswald Mehringer-Stark betreiben dort zu Ostern einen Ostermarkt und zu Weihnachten einen Weihnachtsmarkt. Der Großvater und auch der Vater von Helene Mehringer-Stark waren schon Zwischenmeister. Vor über zwanzig Jahren hat sie die Arbeit von ihrem Vater übernommen, ihr Ehemann ist mit eingestiegen. „Es war Vaters größter Wunsch“, erzählt die kleine, rundliche Frau.

Helene Mehringer-Stark holt unter dem Ladentisch ein Buch hervor. „Glanz und Glitzer. Leonischer Christbaumschmuck aus Roth und Allersberg“. Stolz zeigt sie ein Foto von 1932, auf dem ihr Großvater zu sehen ist, und ihr Vater. Da war er gerade zehn. sie sitzen beide an einem großen Tisch vor einer Scheune und wiegen Lametta ab.

Früher wurde bereits im Februar mit dem Verpacken begonnen. „Mitte Februar wurde mein Vater nervös“, erinnert sich Helene Mehringer-Stark. Weil Lametta aber für viele schon länger nicht unbedingt zu Weihnachten gehört, beginnt die Saison der Heimarbeit nun erst im April.

Sie wissen, dass sie einen aussterbenden Beruf ausüben. Ihre 13 und 15 Jahre alten Kinder werden die Tradition nicht fortführen. Doch so lange es geht, wollen sie mit Lametta ihren Lebensunterhalt verdienen. „Wir sind nicht so anspruchsvoll“, sagt Helene Mehringer-Stark. Miete müssen sie nicht zahlen. Denn sie wohnt mit ihrer Familie in dem Haus, das ihr Vater mit seinem Lametta-Verdienst gebaut hat. Früher haben sie über einhundert Heimarbeiter beschäftigt. Jetzt sind es noch etwa zwanzig.

„Wir sind nicht anspruchsvoll“

Die Zwischenmeister liefern ihnen das Lametta in 12,5 Kilogramm-Kartons zusammen mit den Mappen. Die meisten Heimarbeiter sind Rentner. So wie das Ehepaar Anton und Margaritha Prantl, 69 und 63 Jahre alt. Sie wohnen einige Kilometer von Allersberg entfernt, in Freystadt in der Oberpalz, wo bis ins 19. Jahrhundert der leonische Silberdraht ein wichtiger Erwerbszweig war. Früher wurde hier in jedem zweiten Haus Lametta abgepackt. Oswald Mehringer-Stark bringt den Prantls das Entgeltbuch mit der Novemberabrechnung vorbei. Das letzte Geld in diesem Jahr. Denn spätestens im November müssen die letzten Mappen gepackt sein. Um zu zeigen, wie die Heimarbeit funktioniert, haben die Prantls noch einmal ihre Utensilien aus dem Keller geholt.

Die Prantls sind seit 41 Jahren verheiratet, sie haben eine klare Arbeitsteilung: Margaritha Prantl sitzt vor der Lamettawaage, einer hölzernen Konstruktion auf langen Beinen. Auf die linke Seite hängt sie ein Schüsselchen mit einem Zwölfgrammgewicht. In die linke Hand nimmt sie Lametta und hängt mit der rechten Faden für Faden auf die andere Seite der Waage, bis das Gegengewicht erreicht ist. 20 bis 25 Fäden sind zwölf Gramm. Dann bindet sie die silbernen Fäden mit einem kleinen Papierstreifen zusammen und legt sie auf den sauberen Küchentisch.

Ihr Mann nimmt das zusammengebundene Ende des Lamettas und zieht es in Windeseile durch eine Lasche, schlägt zweimal mit der linken Hand auf die Mappe, um sie zu falten, noch ein flinker Handgriff und die Mappe ist zu. Hat er 25 Stück gefaltet, klebt er sie mit einem Papierband zusammen. Das ganze mal 500 und ein Karton ist voll. Im Schnitt schafft das Ehepaar 4.000 Mappen pro Woche.

Margaritha Prantl hat ihr ganzes Leben Heimarbeit gemacht. Angefangen hat sie mit Stricksachen und Elektroteilen. Seit 25 Jahren ist es das Lametta. „Da kann man nichts verkehrt machen“, sagt sie. Ihr Mann hilft seit neun Jahren, seit er aufgehört hat, als Bierfahrer zu arbeiten. „Es ist leicht zu machen“, findet auch er.

Im November haben die Prantls 11.500 Lamettapackungen abgeliefert. Dafür bekommen sie 400 Euro. „Wir sind darauf nicht angewiesen“, sagt Anton Prantl. Ein Extrageld für die Enkel oder für ein neues Auto. „Wir brauchen eine Beschäftigung“, sagt Frau Prantl. Also sitzen sie Jahr für Jahr am Küchentisch und verpacken selbst in der größten Sommerhitze die silbernen Streifen. Kein Wunder, dass sie ihren Weihnachtsbaum nicht mit Lametta schmücken. Margaritha Prantl lacht kurz und sagt dann: „Wir sehen das ja das halbe Jahr.“