AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON JAN JOSWIG
: Intellektuelles Zuprosten

Woraus besteht ein Diskurs? Und was hat das Gallery Weekend mit Boris Beckers Hochzeit zu tun?

Es war das Wochenende mit dem umgedrehten Düsenantrieb. Alles falschherum. „Das inspiriert mich“, röhrt der Kiez-bekannte Proklamier-Alkoholiker mit den Dennis-Hopper-Augen bei „Plus“ an der Prinzenstraße (viel schlimmer als „Plus“ an der Bergmannstraße, versichert die Verkäuferin, die nur einen Tag hier aushilft). „Das inspiriert mich, dass ich hier mit vier mal eineinhalb Litern stehe, sechs Litern Orangensaft. Haha, kein Tropfen Alkohol. Ja, Herrschaften, ich stehe hier in der Schlange mit meinem Recht, warten zu dürfen, und lasse mich davon inspirieren, dass ich keinen Alkohol kaufe“, patscht er mit der flachen Hand triumphierend auf die Flasche Martini, die ich, der ich nie einen Tropfen Alkohol trinke, aufs Laufband gelegt habe. Aber das war schon Station drei.

Das erste Falschrum-Erlebnis erwischte mich bei der „Mayday“-Demo am Bebelplatz. Die ästhetischen Gewissheiten verdrehten sich. Wenn die „Fuckparade“ zu den Organisatoren einer Erster-Mai-Demo gehört, erwarte ich musikalisch eine Gabba-Drillcore-Attacke, die ein einziger Schmiedehammer ins gedunsene Gesicht des Establishments ist. Stattdessen müffelt ein Gesinnungs-Geschunkel mit Mutmach-Kontrabass vom „Incredible Herrengedeck“ in jovialer Politbarden-Tradition vom Wagen, als wären wir Gartenzwerge, die sich an die Hand nehmen müssten. Vor so viel Haltungsdebakel retiriere ich zurück zur Westflanke des Hotel de Rome, vor der die Audi-VIP-Shuttles für das Gallery Weekend stehen. Jeder Galerie ihren Audi, die Fahrer mit den vier Ringen am schwarzen Revers: Galerie Sprüth Magers, Thomas Schulte, Max Hetzler, Neu, Crome, Eigen + Art … Ich klopfe mit meinem silber-goldenen Parker-Schreiber an die Scheibe des einzigen SUV-Shuttles, dem Wagen der Galerie Volker Diehl, und lasse mich zum Kunstzentrum Heidestraße fahren. Dort wird die performative Gewissheit, Reden sei Handeln, auf den Kopf gestellt: In zarten Minuskeln versucht der Wandschriftzug „Events are a discourse“ das Zuprosten vor Tafelbildern intellektuell aufzublasen. Aber es stimmt ja auch. Reden ist Silber, eine Öko-Thüringer mit italienisch schelmischem „Guten Genuss wünsch’ ich“ vor den senffarbenen Eitempera-Spiralen von Robert Zandvliet bei Hamish Morrison ist Gold.

Den Martini bianco bringe ich zu einem Abendessen mit, an dem ein mittelalter, kultivierter Schriftsteller teilnimmt, der nie vor Mitternacht den obersten Hemdknopf öffnen würde und wegen eines Jugendtraumas keinen anderen Alkohol verträgt. Wein ist ihm durch seine NDR-Mutter lebenslang mit öffentlich-rechtlicher Kulturklebrigkeit verbunden. Der Mitte-Inspekteur mit den weichen Wangen, der sich schon 1984 in der New-Wave-Anthologie „Rawums“, herausgegeben von Peter Glaser bei KiWi, als Spezialist für 18-jährige „Dingelchen“ empfahl, weiß zu berichten, während ich an dem dritten Glas Grauburgunder nuckel, das ich mir ausnahmsweise zur Feier des sich senkenden Abends gegönnt habe, dass es absolut keinen Namedropping-Konsens mehr gibt. Die Jugend kennt nichts mehr, alles muss man erklären. Wenn ich also „Fuckparade“ schreibe, muss ich ergänzen: eine von Tarnnetzen und Ostblock-Militärfahrzeugen besessene Kampfansage an die „Loveparade“, die sich 1997 zu krassem Fun formierte. Bei krassem Fun, sagt der Schriftsteller, falle ihm noch etwas ein: Boris Becker heiratet nur, um die Trauung auf den gleichen Tag legen zu können wie die seiner Ex Babs. Denn dann geht es um die Wurst. Bei wessen Festlichkeit werden die gemeinsamen Kinder antreten? Diese Anekdote allerdings klingt dann wieder sehr richtigherum. JAN JOSWIG