Last Exit Hongkou

Als die deutschen Juden einwanderten, gab es in der Stadt nicht weniger als sieben Synagogen, fünfzig Zeitungen und Zeitschriften, die in neun Sprachen gedruckt wurden und von denen dreißig auch im Zweiten Weltkrieg erschienen. Auf Spurensuche im ehemaligen jüdischen Viertel von Schanghai

VON GEORGES HAUSEMER

Grillenkämpfe sind im heutigen China offiziell verboten. Doch die Insektenhändler auf dem Zhoushan-Markt lassen ihren Tierchen sorgfältigste Pflege angedeihen, vor allem den männlichen Vertretern der Gattung. Denn mit ihnen lässt sich gutes Geld verdienen, weshalb sie üppig gefüttert werden und in geräumigen, mit Samt und Seide ausgelegten Behältern auf Käufer warten dürfen. Das tun die Männchen in aller Stille, denn das typische Zirpen, für das die weiblichen Heuschrecken von jeher von den Chinesen so geliebt werden, ist ihre Sache nicht. Mit augenzwinkernder Verschwörermiene öffnet der Verkäufer den Deckel und erlaubt einen flüchtigen Blick ins Innere einer Schachtel. Für unerlaubten Handel mit Grillenkämpfen ist der Zhoushan-Markt ideal: klein, unspektakulär, getarnt als Umschlagplatz für legale Haustiere. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft werden Fahrräder und Rikschas repariert, Holzmöbel gezimmert. In einer winzigen Suppenküche sind ein paar Burschen mit der manuellen Herstellung von Nudeln beschäftigt, die anschließend hungrigen Passanten vorgesetzt werden.

Kein Ort also, der in den einschlägigen Touristenbibeln erwähnt wird. Dabei war die Zhoushan-Straße einst eine der Lebensadern des Hongkou-Viertels. Aber auch dieser Stadtteil im Nordosten von Schanghai, noch in Sichtweite der berühmten Uferpromenade, dem Bund, wird in den meisten Reiseführern höchstens mit einer Randbemerkung bedacht. Es ist eine Gegend, die nicht in das Selbstbildnis der schnell wachsenden, resolut auf die Zukunft ausgerichteten 17-Millionen-Stadt passt. Hier werfen, im Gegensatz zum futuristischen Pudong jenseits des Huangpu-Flusses, keine gigantischen Turmklötze ihre langen Schatten. Keine hochtrassigen Autobahnen durchschneiden das gewachsene, mitunter dörflich anmutende Gefüge, wo man noch alten Männern mit Spitzbart und Greisinnen im Mao-Blaumann begegnet.

Ins Bild vom alten Asien, dem in den chinesischen Megastädten auch viele Einheimische nachtrauern, passt auch der Huoshan-Park. Vormittags treffen sich hier, nicht weit vom Grillenmarkt entfernt, ältere Herrschaften zur gemeinsamen Tai-Chi-Gymnastik. Die Musik dazu dröhnt aus einem Gettoblaster, der genau vor jener Gedenktafel postiert ist, die auf eine der vergessenen Epochen der Schanghaier Geschichte verweist. Gewidmet ist das Denkmal jenen jüdischen Flüchtlingen, die sich zwischen 1933 und 1939 in Schanghai vor der nationalsozialistischen Barbarei in Sicherheit brachten.

Die meisten von ihnen kamen aus Deutschland und Österreich, völlig mittellos, höchstens mit den fünf Reichsmark und den zwei Koffern ausgestattet, die man ihnen bei ihrem Auszug aus dem kriegstreiberischen Europa genehmigt hatte. Hongkou war ihr letzter Ausweg. Nach der Reichskristallnacht 1938 ermöglichte von allen Ländern und Städten der Welt nur noch Schanghai, das unter Verwaltung der französischen, englischen und japanischen Kolonialmächte stand, den Juden eine visum- und auflagenfreie Einreise. 20.000 bis 30.000 sollen es gewesen sein, die in den Armenvierteln nördlich des Huangpu abstiegen, die wenigsten mit gutem Gefühl. Denn das als gefährlich geltende China war vielen fremd, seine Kultur unbegreiflich.

Vor allem Schanghai, das bereits in den 1930er-Jahren so kosmopolitisch war wie kaum eine zweite Stadt der Erde, hatte den Ruf, eine Ganovenmetropole und ein Sündenpfuhl zu sein, wo Menschen, von einem mörderischen Klima geplagt, in Slums vegetierten oder schlichtweg auf der Straße krepierten. Wang Fa Liang kennt die Geschichte von Hongkou aus eigener Erfahrung. Vor 85 Jahren wurde er in diesem Viertel geboren. Hier arbeitete er als junger Kellner, als die vor Hitler geflüchteten Juden in den engen, schäbigen Ziegelbauten einzogen. Man sprach von einem Getto, doch in Wahrheit handelte es sich um ein friedliches, auf gegenseitiger Hilfsbereitschaft beruhendes Miteinander. „Wider Erwarten verstanden sich die Chinesen und ihre neuen Nachbarn sehr gut“, erinnert sich Mister Wang. Sie teilten nämlich das gleiche Schicksal: „Die Juden wurden von den Deutschen und die Chinesen von den Japanern verfolgt.“ Die damaligen Unterkünfte gibt es immer noch, und sie haben sich kaum verändert.

Heute haust das chinesische Proletariat in jenen Straßenzügen, die einst Klein-Wien und Klein-Berlin genannt wurden. Ein Bad für zehn Familien auf drei Etagen, die Wäsche hängt auf Leinen von Fassade zu Fassade, Vogel- und Grillenkäfige vor den Fenstern, gekocht wird auf dem Bürgersteig. Man könnte solche Szenen als pittoresk bezeichnen, wenn man nicht wüsste, dass das Leben hier noch nie einfach war. Und eben das weiß man nur, wenn man mit Männern wie Wang Fa Liang unterwegs ist. Ein Stück weit begleitet der rüstige Rentner die Teilnehmer der gut vierstündigen Tour of Jewish Shanghai, die 1995 von einer Brasilianerin gegründet und seit zwei Jahren von Dvir Bar-Gal, einem 1965 in Israel geborenen Journalisten und Fotografen, geleitet wird. In Bar-Gals Abwesenheit macht Georgia Noy, eine israelische Arabischlehrerin, die selbst vier Jahre in Schanghai lebte, die Besucher auf all die kleinen, spannenden Details aufmerksam, die man niemals entdecken würde, wenn man sich allein durchschlagen wollte. Auf dem Zhoushan-Markt beispielsweise wurde einst koscheres Fleisch angeboten, in einem unscheinbaren Ecklokal wurden früher Konzerte gegeben, lagen speziell für die Emigranten herausgegebene Zeitungen aus. Und die Ohel-Moishe-Synagoge, wo das jüdische Erbe bis heute konserviert und gepflegt wird, würde man auf eigene Faust vermutlich gar nicht finden. Sie versteckt sich in einem Hinterhof an der Chang Yang Road, zwischen Handwerkerateliers und Lagerräumen. Keine offizielle religiöse Stätte, denn seit dem forcierten Auszug aller Ausländer, also auch der Juden, aus China im Jahre 1949 wird der jüdische Glaube im Fernen Osten nicht mehr anerkannt.

Als Museum mit Bibliothek und Fotowänden bietet die Synagoge umfassende Einblicke in die Geschichte der Schanghaier Juden. Insgesamt drei Immigrationswellen gab es. 1840 kamen die ersten sephardische Juden aus Kairo, Bagdad, Bombay und Singapur, die in Schanghai äußerst erfolgreich Geschäfte machten. Ab 1900 folgten die aschkenasischen Juden aus Russland, die vor den Pogromen und später vor der kommunistischen Revolution flohen. Als die deutschen Juden einwanderten, gab es in der Stadt nicht weniger als sieben Synagogen, fünfzig Zeitungen und Zeitschriften, die in neun Sprachen gedruckt wurden und von denen dreißig auch im Zweiten Weltkrieg weiterhin erscheinen konnten.

Zu Stationen der Diaspora jenseits von Hongkou führen die nächsten Etappen der Tour. Der Kleinbus bringt uns an den Bund, die beliebte Flaniermeile, wo einige der emblematischsten Gebäude der alten Metropole mit den neuzeitlichen Monumentalbauten am gegenüberliegenden Ufer des Huangpo konkurrieren. 1929 ließ Victor Sassoon, ein im Opiumhandel wohlhabend gewordener Jude aus Indien, das Cathay Hotel errichten, das heute Peace Hotel heißt und wo später viele jüdische Immigranten kostenlos wohnen durften, bevor sie eine feste Bleibe fanden.

Die 1930er-Jahre waren die grellbunten Boomzeiten im „Paris des Ostens“, als der Mythos Schanghai geboren wurde, der Alkohol in Strömen floss und die jungen Chinesinnen willig waren. Von den ursprünglichen Jugendstildekors, dem Original-Lalique-Glas und den kostbaren Perserteppichen ist im Sassoon-Palast allerdings nicht viel erhalten geblieben. Aber grandios ist heute noch der Blick von der Dachterrasse, wo sich der Immobilien-Tycoon sein pyramidenförmiges Luxusappartement hatte bauen lassen.

Auch der aus Bagdad stammende Elly Kadoorie war im Baugeschäft tätig. Seine Privatgemächer, ihrer Ausstattung wegen „Marmorpalast“ genannt, wird heute als Freizeitzentrum für Kinder genutzt. Als Kadoorie nach Schanghai kam, war er völlig mittellos. Er starb reicher, als es Sassoon war, und wird aufgrund seines Einsatzes im Dienst der kulturellen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung der Stadt bis heute verehrt. Die Kadoorie-Mansion bildet den Abschluss der jüdischen Tour durch eine Stadt, die nur vordergründig den Rückblick verschmäht und sich bereits jetzt auf die Weltausstellung 2010 vorbereitet. Ganze Viertel werden in Windeseile von Presslufthämmern und Baggerschaufeln niedergemacht, um Platz zu schaffen für die gen Himmel strebenden Wahrzeichen einer kapitalistischen Zukunft, deren Superlative sich jedem Besucher mit aller Macht aufdrängen. Doch sogar in diesem Umfeld haben noch viele historische Örtlichkeiten eine Menge Überraschungen zu bieten. Dank Begleitern wie Mrs. Noy und Mr. Wang werden aus Ahnungslosen in wenigen Stunden Eingeweihte, die Schanghai plötzlich mit anderen Augen sehen. Ob Grillenkämpfe in China tatsächlich verboten sind, das wissen auch diese beiden nicht mit letzter Sicherheit zu sagen.