Die Logik des Verdachts

Unter den Globalisierungskritikern blühe der Antisemitismus – so lautet die neue Mär, die man sich im Debattenzirkus erzählt. Klingt spannend, ist allerdings blanker Unsinn

Die Warner vor dem„Antisemitismus der Antifaschisten“ haben wohl frühere Ungeheuerlichkeiten vergessen

Eine neue Idée fixe elektrisiert zurzeit die globale Debattenwelt: die Idee vom Antisemitismus der Globalisierungskritiker. Es begann mit dem Argument, dass das Unbehagen gegen Kommerz, spekulatives Kapital und Entmaterialisierung von Finanzströmen, das in dem No-Global-Aktivismus zum Ausdruck kommt, entfernt an die Stereotype vom geldgierigen, alle Traditionen zersetzenden, „raffenden“ (statt „schaffenden“) jüdischen Händler und Geldverleiher erinnert, wie sie zuerst im christlichen Antijudaismus entstanden waren und sich später im nationalsozialistischen Rassenhass radikalisiert hatten; und dass das Motiv, dass ferne ökonomische Mächte die lokalen Kulturen kolonisieren und unterminieren, mit einschlägigen antisemitischen Vorstellungsreihen korrespondiert.

Bald kam als weiteres Indiz hinzu, dass im Wurzelwerk des Antiglobalismus ein gewisser, platter altlinker Antiimperialismus wiederauflebe – und in dessen Zuge eine Israelkritik, die bisweilen antisemitische Schlagseite aufweise. Selbst ein üblicherweise so bedächtiges Diplomatenmagazin wie das linksliberale Washingtoner Foreign Policy widmete dem „Judenproblem der Antiglobalisten“ (so lautet tatsächlich der Titel!) eine elendslange Story. Weil angeblich beim letzten Weltsozialforum in Brasilien jemand ein T-Shirt getragen hat, auf dem Hakenkreuz und Davidstern mit einem Gleich-Zeichen verbunden waren, gelte ab nun, so heißt es, „Porto Alegre als Schlaglicht für einen neuen Antisemitismus“. Auch die Hamburger Zeit hat den „Antisemitismus von links“ schon entdeckt.

Dass ein islamischer Denker, der zuvor einige führende jüdische Intellektuelle für ihre Pro-Scharon- und Pro-Bush-Haltung kritisiert hatte, zum Europäischen Sozialforum nach Paris eingeladen wurde, gab der Obsession, Antisemitismus im No-Global-Camp auszumachen, zuletzt einen neuen Drive. Tariq Ramadan, der Autor des umstrittenen Textes, hauche der „Vorstellung eines jüdischen Komplotts“ neues Leben ein, wütete der Philosoph Alain Finkielkraut: Der Antisemitismus hat „bei den Globalisierungsgegnern eine große Zukunft vor sich“. Der Kolumnist Paul Lendvai hat sich dieses Argument unlängst im Wiener Standard zu Eigen gemacht. Dabei hat Lendvai Ramadans Hauptpointe, dass der allergrößte Teil der europäischen Juden eine Haltung zum Nahostkonflikt einnimmt, weil sie Juden sind – und damit einen Beitrag zur Ethnifizierung des Konflikts leisten –, paradoxerweise bestätigt, wenn auch affirmativ gewendet: Dass Juden heute nicht mehr zwischen Antisemitismus und Israelkritik unterscheiden, sei „zur Kenntnis zu nehmen“, dekretiert er schroff.

Zunächst also: Dass viele jüdische Westeuropäer Israelkritik und Antisemitismus nicht mehr auseinander halten, die Bereitschaft zu Differenzierungen verloren haben, ist erklärbar, es gibt hierfür Gründe, gute und schlechte – das Bedrohungsgefühl angesichts näher rückenden Terrors, die Solidarität mit den Juden in Israel, eine gewisse Niedergeschlagenheit, die aus der Zerstörung jeder Hoffnung auf eine Friedenslösung in Nahost resultiert, und natürlich die Tatsache, dass Israelkritik auch antisemitisch motiviert sein kann. Doch erklären kann man vieles, gescheit ist die blinde Identifikation von Antisemitismus und Israelkritik deswegen nicht. Jedenfalls kann es für jemanden, der auf seine geistigen Fähigkeiten hält, keinen Grund geben, die schwindende Bereitschaft, intellektuelle Unterscheidungen zu treffen, auch noch zu feiern.

Aber kommen wir zurück zur Antiglobalisierungsbewegung. Zugegeben, natürlich gibt es platte Kapitalismuskritik. Den Reichen, den Raffgierigen, den Spekulanten die Schuld an vielen Ungerechtigkeiten zuzuschieben ist platt, aber nicht deswegen schon antisemitisch, weil man früher zu alldem noch „Juden“ hinzugefügt hat. Globalisierungskritik als Verteidigung lokaler Eigenarten gegen „die Macht der Multis“ zu verstehen öffnet nationaler Frömmlerei zumindest das Tor. Ein solcher moderner „Antikapitalismus der dummen Kerls“ mag sogar unbewusste kollektive Erinnerungsreste durchaus ausdrücken, es ist aber doch kaum sinnvoll, dies mit klassischem Antisemitismus gleichzusetzen. Zumal es – jedenfalls in Westeuropa – ein waches Sensorium in den globalisierungskritischen Zirkeln für den ambivalenten Charakter einer Kapitalismuskritik gibt, die nur Börse und Finanzkapital attackiert. Kaum ein Buch ist in dieser Ecke in den vergangenen Jahren erschienen, das nicht selbst eben auf genau die Gefahr hinweist, dass zu platte Kritik durch alte Stereotype eingefärbt wäre.

Noch mal zugegeben, es gibt natürlich linke Israelkritik, die es nicht schafft, den Ton zu wahren, an radikalen Rändern womöglich welche, die wenig verhohlen antisemitisch ist. Prägend ist dies nicht und wird selbst in minder schweren Fällen von den Protagonisten der Antiglobalisierer selbst skandalisiert. Als eine deutsche Attac-Unterorganisation unlängst mit einer Unterschriftenliste fordern wollte, dass Produkte, die in jüdischen Siedlungen im besetzten Palästinensergebiet produziert werden, nicht mehr begünstigt nach Europa importiert werden dürfen, geriet der Arbeitskreis unter heftigste Kritik aus den eigenen Reihen. Ein prominenter Aktivist geißelte die „antisemitischen Gedanken“ – und das, obwohl ja durchaus debattiert werden kann, ob Europa eine Siedlungspolitik, die es für schädlich hält, mitfinanzieren muss.

Und zugegeben, zum Letzten, natürlich gibt es ein paar Verrückte auf der Linken, deren bedingungslose Palästinasolidarität auch vor einer Parteinahme für den grassierenden neuen islamischen Antisemitismus nicht Halt macht. Nur sind diese heutzutage isoliert. Sie repräsentieren rein gar nichts. Ganz zum Unterschied zu den Siebziger- und Achtzigerjahren, als in einer ganzen Kohorte studentischer Linksradikaler zum guten Ton gehörte, das Existenzrecht Israels leidenschaftlich zu bestreiten, und das „zionistische Gebilde“, wie es damals hieß, wechselweise als Kettenhund Amerikas oder aber – im Gegenteil – als eigentlicher Drahtzieher des US-Imperialismus denunziert wurde. Haben diejenigen, die von einem wachsenden „Antisemitismus der Antifaschisten“ (Finkielkraut) warnen, all diese Ungeheuerlichkeiten vergessen?

Erklären kann man vieles, gescheit ist die blinde Identifikation von Antisemitismus und Israel-Kritik nicht

Der Unterschied zu den Siebziger- und Achtzigerjahren ist also: Was damals, auch wenn es massenhaft auftrat, ziemlich ignoriert, öffentlich kaum thematisiert wurde, wird heute ohne Zeitverlust skandalisiert, auch wenn nur ein Einzelner einen bedenklichen Satz äußert. Das ist gut so. Das zeugt von Sensibilisierung und gerade nicht von grassierendem Antisemitismus. Also, eine Bitte an alle Beteiligten: Wachsam sein, ja. Aber bitte die Kuh im Stall lassen, Proportionen wahren und vor allem schnell aufhören mit einer Hermeneutik des Verdachts, die Antisemitismus auch bei politischen Haltungen zu wittern versucht, über die sich wenig Nachteiligeres sagen lässt als das: dass sie dem, der den Verdacht ausspricht, nicht passen.

ROBERT MISIK