„Eine Welle antisemitischer Vorfälle“

Die fast ein Jahr unter Verschluss gehaltene Studie zum Antisemitismus in der EU ist jetzt öffentlich und hat eine politische Debatte entfacht. Die Ergebnisse des Reports lassen kaum ein Land gut aussehen. Die EU-Kommission schweigt bislang

VON PHILIPP GESSLER

Jetzt ist sie raus, die umstrittene Studie zum Antisemitismus in der EU – und die politische Debatte hat begonnen. Die taz hatte schon gestern wesentliche Ergebnisse gemeldet, nun stellte der bündnisgrüne EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit die Studie auf seine Internetseite. Sie nicht zu veröffentlichen sei schädlicher, als sie öffentlich zu machen, sagte er. Der CDU-Europaabgeordnete Armin Laschet kritisierte, es sei peinlich, dass sich jüdische Institutionen in Frankreich und Großbritannien gezwungen sahen, die Expertise einer EU-Agentur zu veröffentlichen. Auch das Schweigen der EU-Kommission zu dem Vorgang sei inakzeptabel.

„Der Report zeigt eindeutig einen Zuwachs antisemitischer Aktivitäten seit der Eskalation des Nahostkonflikts im Jahr 2000, mit einem Höhepunkt im Frühling 2002“, stellt die Studie für den Untersuchungszeitraum, das erste Halbjahr 2002, fest. Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) in Wien hatte sie verfassen lassen. Sie blieb aber seit Januar unveröffentlicht. „In vielen Mitgliedsstaaten hat es eine Welle antisemitischer Vorfälle gegeben“, ist ein Resümee des Berichts.

Zwar beleuchtet der Report auch die Masse antisemitischer Drohungen oder den politischen Diskurs in den 15 Staaten – besonders eindrucksvoll sind jedoch die geschilderten Gewalttaten gegen Personen oder Sachen. Dazu heißt es in der Studie: „Physische Attacken auf Juden sowie die Entweihung oder Zerstörung von Synagogen waren Taten, die in der Erfassungsperiode oft von jungen muslimischen Tätern begangen wurden.“ Auch die „Szene der extremen Linken“ kriegt ihr Fett weg. Hier komme es bei Kritik an Israel zum Gebrauch antisemitischer Stereotype: „Oft entsteht so eine Kombination von antizionistischen und antiamerikanischen Ansichten, die ein wichtiges Element beim Auftauchen einer antisemitischen Stimmung in Europa bildet.“

Von den 15 EU-Staaten werden namentlich Frankreich, Belgien, die Niederlande und Großbritannien genannt, wo es eine Reihe physischer Attacken gegen Juden oder deren Institutionen gab. Allein für den April 2002 verzeichnet die Studie im Vereinigten Königreich 51 Vorfälle, „die meisten davon Angriffe auf Personen“. Bei manchen mussten die Angegriffenen ärztlich behandelt werden. Bei 20 Vorfällen war die Gewalt so extrem, dass sie lebensbedrohlich hätte werden können. In Frankreich kam es zu fast 400 Vorfällen, die meisten davon Graffiti-Schmierereien, aber auch 16 tätliche Angriffe und 14 Brandanschläge auf Synagogen.

In den Niederlanden, wo es bisher fast nie antisemitische Vorfälle gab, zählte man im ersten Halbjahr 2002 sechs Gewalttaten, bei neun Fällen wurde Gewalt angedroht. Ein Jude aus den USA wurde von einer Gruppe verfolgt und schwer geschlagen. Ein Verkäufer auf einem jüdischen Markt im Zentrum Amsterdams wurde mit einer Pistole und dem Spruch „Ich schieß dich tot“ bedroht.

Nicht ganz vergleichbar sind die Daten aus Belgien, wo seit dem 11. September 2001 rund 2.000 antisemitische Vorfälle gemeldet wurden – ohne allerdings zu unterscheiden, ob es sich um eine Gewalttat oder andere Begebenheiten handelt. Dass viele der Täter muslimische Zuwanderer sind, die laut der Studie ja ebenfalls meist Opfer von Ausgrenzung sind, legt ein antisemitisches Graffiti nahe, das am 28. Mai vergangenen Jahres an einer der großen Straßen Antwerpens an die Wand geschmiert wurde. „Kill the juif“, hieß es da, „Laat ze lijden (lasst sie leiden). Fuck Belgium“.

Für die Bundesrepublik kommt die Studie auf vier gewalttätige Vorfälle im Frühjahr 2002. Davon ware drei Anschläge auf Gebäude. Einer betraf am 14. April 2002 in Berlin zwei Jüdinnen, die Kettchen mit Davidsternen um den Hals trugen. Antisemitismus, so der Bericht, äußere sich in Deutschland eher in einer Flut judenfeindlicher Briefe an die jüdischen Gemeinden und jüdische Prominente.

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