Sand im Milchglas

Antje Rávic Strubel erzählt in ihrem neuen Roman „Tupolew 134“ die wahre Geschichte einer Flugzeugentführung durch zwei DDR-Bürger

Eis ist eine gute Metapher, Sand aber auch. Waren in ihrem vorletzten Roman, „Unter Schnee“, die Figuren in der Kälte erstarrt, ist es in Antje Rávic Strubels neuem Roman „Tupolew 134“ der Sand, der sie zum Erlahmen bringt. Wir befinden uns in Ludwigsfelde bei Potsdam, die Siebzigerjahre sind noch nicht ganz zu Ende, und die DDR wird sich noch lange bester Gesundheit erfreuen. Nur dieser Sand weht überall durch alle Ritzen, knirscht sogar in den Getrieben der Autos und zwischen den Zähnen. Und wie schon damals beim Schnee gewinnt man auch heute beim Sand den Eindruck: Substanzen wie diese sorgen nicht nur für Verlangsamung im Buch, sie übertragen sich auch auf den Leser, wehen ihm in die Augen, sorgen für das Markenzeichen der Antje Rávic Strubel, den Milchglaseffekt, der ihre Figuren interessant verschwommen macht.

„Tupolew 134“ ist der erste Rechercheroman, den Antje Rávic Strubel geschrieben hat, die Nacherzählung eines realen Vorfalls, der Entführung eines polnischen Flugzeuges im August 1978 durch zwei DDR-Bürger, durch Detlev Tiede und Ingrid Ruske, die in den Westen wollten und die Piloten zwangen, nicht in Schönefeld zu landen, sondern in Tempelhof. So weit die Fakten, um die es in „Tupolew 134“ auch geht. Aber Antje Rávic Strubel wäre nicht sie selbst, hätte sie es dabei belassen. Weil es in ihrem Erzählen immer eher um vorsichtige Annäherung geht als um Identifikation, handelt auch ihr neuer Roman eher von dem, was hätte sein können, als von dem, was war. Antje Rávic Strubel hält sich nur partiell an die historischen Vorlagen, dichtet Figuren weg, erfindet andere hinzu und fokussiert im Ergebnis weniger die politische Brisanz dieser Unternehmung als das, womit sie sich wirklich auskennt: eine unbekannte DDR, bei deren Niedergang sie mit fünfzehn Jahren jung genug war, sie von außen betrachten zu können, und alt genug, ihre Tristesse zu erfühlen. Es geht darum, wie man es sich vorstellen könnte, ein unvorstellbares Land, in dem es schwierig gewesen sein muss, zu lieben, in dem jeder jeden verdächtigen musste, weil jeder jeden hätte verraten können.

Ein interessantes Projekt so weit, schwerwiegender zweifellos als das vieler Autoren, die auch in der DDR geboren und genauso alt sind wie Antje Rávis Strubel, die sich aber oft nur auf harmlose Kindheitserinnerungen kaprizieren. Man denkt also, das muss ein gutes Buch werden, ein Buch über die Schwierigkeit, sich Zeiten zu nähern, die rätselhaft sind – aber dann hängt es einen völlig ab. Hatte man bisher immer das Gefühl, Antje Rávic Strubel habe bewundernswerten Respekt vor ihren Figuren, stellt man diesmal nur noch fest: Es ist das Schönste am Lesen, in unbekanntes Leben einzudringen, und hier wird man um diese Lust betrogen. Dabei gibt es so schöne Stellen in „Tupolew 134“, Stellen, in denen etwas von den Figuren durchscheint.

Wenn die Autorin zum Beispiel den Vater der Entführerin, die im Buch Katja heißt, ein paar Wochen nach dem Vorfall plötzlich den Kopf verlieren und ihn auf einer Polizeiwache nach ihr fragen lässt. Oder wenn an einer anderen Stelle vorgeschlagen wird: Vielleicht war der Entführer, der im Buch Lutz heißt, in Katja verliebt. Vielleicht war Katja in den Westler verliebt, der sie aus der DDR holen wollte und dabei verhaftet wurde. Man wird einfach bockig, wenn man nach Stellen wie diesen immer wieder über selbstreflexiven Passagen auftauchen muss. Das ist eben auch Bevormundung: Warum darf man nicht bei den Figuren bleiben, sondern muss in den Kopf einer außen Stehenden, wie man ja selber schon eine ist? Antje Rávic Strubel ist bestimmt eine große Konstrukteurin, spielt kunstfertig mit den Ebenen und Perspektiven, aber in diesem Roman wirkt sie zu kontrolliert.

SUSANNE MESSMER

Antje Rávic Strubel: „Tupolew 134“. C. H. Beck Verlag, München 2004, 318 Seiten, 19,90 Euro