Großes Kino kleiner Gefühle

Von der Selbstverständlichkeit der schlechten Laune: Agnès Jaoui setzt in der Komödie „Schau mich an“ alltägliche Peinlichkeiten präzise in Szene

Leider gibt es keine griffige Bezeichnung für das Gegenteil von „großem Gefühlskino“. Die Filme des französischen Schauspielerpaares Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri nämlich widmen sich mit Passion den „kleinen“ Gefühlen. Wobei „klein“ keine Größenangabe ist, sondern ein Genre definiert. Gemeint sind jene zahlreichen alltäglichen Regungen, die man meist lieber für sich behält, weil sie eher unschön, ganz und gar unheroisch und oft sogar ein wenig niederträchtig sind.

Jean-Pierre Bacri ist ein Meister in der Darstellung solch kleiner mieser Emotionen: Wer könnte die bittere Enttäuschung vergessen, die er in Jaouis Regiedebüt „Le goût des autres“ erleidet, als er sich wegen einer Frau den Schnurrbart abrasiert und die es nicht einmal bemerkt? Mit furchtloser Präzision machte Bacri in dieser Szene sein Gesicht zum Spiegel der wenig glorreichen Empfindungen: Wie sich sofort Verächtlichkeit hineinmischt in die Frustration und der süße Schmerz unerwiderter Liebe ganz von gekränkter Eitelkeit überschattet wird.

Hatte man mit ihm da noch ein bisschen Mitleid, geht ihm nun, da er in „Schau mich an“ den erfolgreichen Schriftsteller gibt, der Charme des antiintellektuellen Underdogs ganz ab. Aber selbst als tyrannischer Unsympath schaut man ihm noch gerne zu; die Selbstverständlichkeit seiner schlechten Laune hat etwas Entlastendes. Dazu noch steht er in „Schau mich an“ zwar im Mittelpunkt, ist aber dennoch nur eine Nebenfigur. Man wird allerdings den Eindruck nicht los, dass ihm das nicht passt.

Wie es dem Genre entspricht, sind die Hauptfiguren in Agnès Jaouis zweitem Film eher unscheinbare Wesen: nämlich Lolita, die dicke, unansehnliche Tochter des großen Schriftstellers, und ihre spröde Gesangslehrerin Sylvia, gespielt von Jaoui selbst. Wie es unter Mauerblümchen die Regel ist, haben sie zu Beginn eine sehr unausgeglichene Beziehung: Während Lolita ihre Lehrerin verehrt, will die sie lieber heute als morgen loswerden. Doch gerade als Silvia die nächsten Probestunden absagen will, stellt Lolita – unfreiwillig – klar, dass der große Cassard ihr Vater ist. Den, das weiß der Zuschauer bereits, verehrt Sylvia. Und ganz spontan sagt sie Lolita nicht etwa ab, sondern spricht im Gegenteil euphorisch von der Notwendigkeit, die gemeinsame Arbeit zu intensivieren.

Das ist die Sorte Peinlichkeit, die in „Schau mich an“ meisterlich zurückhaltend und doch sehr präzise in Szene gesetzt wird. So funktioniert der Film als Panorama der kleinen Korrumpierbarkeiten: Wie der aufstrebende Schriftsteller auf einmal seine Lieblingsspeisen neu definiert, weil er nun beim Erfolgsautor zu Gast ist. Wie auch andere Ansichten einer Revision unterzogen werden, jetzt, wo das Gehalt steigt. Wie Freunde plötzlich als lästige Kletten erscheinen, die den eigenen Aufstieg verhindern wollen oder doch nur neidisch sind. Zu dieser Revolutionierung der Perspektiven kommt es, weil das dritte Buch von Sylvias Mann ein Erfolg wird, mit allem, was dazugehört: eine Seite in Le Monde, Auftritte in Talkshows und eben die Freundschaft mit bekannten Autoren.

Sylvia selbst ist kein Glamourwesen, aber anfangs doch sehr verführt davon. Jaoui spielt sie mit der ihr eigenen trockenen Verschlossenheit. Es ist ihr scharfer Blick, der das Geschehen bündelt. Und die Wendung kommt für sie, als Lolita in ihr Blickfeld gerät.

Der Name scheint ihr Hohn zu sprechen, denn Lolita ist alles andere als eine kleine Verführerin. Im Gegenteil, Marilou Berry verkörpert sie sozusagen als wahre Tochter Bacris: Obwohl vom Vater und anderen tatsächlich oft missachtet, ist sie weder Engel noch Opfer, sondern steht Cassard an Egozentrik in nichts nach; auch scheint sie dessen ehrliche Art der schlechten Laune geerbt zu haben. Wütend bahnt sie sich ihren Weg, eine wunderbar störrische Person, so willensstark, dass man sich um sie keine Sorgen machen muss. Und was das Schönste ist: Sie weiß sehr wohl, dass es nicht Diäten sind, die ihr helfen könnten.

Unter humoristischen Einzelbeobachtungen etwas verborgen, erzählt „Schau mich an“ letztlich von einer langsamen Desillusionierung – und damit doch wieder von einem großen Gefühl. BARBARA SCHWEIZERHOF