Spuren der Sammelwut

In der Charité lagern tausende Schädel, deren Ursprung angeblich keiner mehr kennt. Nun gibt es Stimmen, die deren würdige Beerdigung fordern

„Man weiß ja nicht, woran zukünftige Generationen forschen wollen“

VON HEIKE KLEFFNER

Deutsche Kolonialgeschichte steht seit zwei Tagen im Mittelpunkt der „Anti-Colonial Conference“, zu der sich einige hundert Besucher in der Alten Feuerwache in Berlin-Kreuzberg eingefunden haben. Anlass der Konferenz: die Erinnerung an den Aufstand der Herero in Namibia gegen das deutsche Kolonialregime vor hundert Jahren sowie der 120. Jahrestag der so genannten Afrika-Konferenz, die am 15. November 1884 in Berlin begann.

Damals setzte Reichskanzler Bismarck die Aufnahme des Deutschen Reichs in den Kreis der Kolonialmächte durch. Hier teilten 14 Staaten – darunter Belgien, England, Frankreich, Spanien und die USA – Afrika wie einen Kuchen unter sich auf.

Wer heute in Berlin nach den Spuren jener afrikanischen Aneignung sucht, wird kaum bei der Charité suchen. Doch genau hier, hinter der grauen Sicherheitstür eines kleinen Anbaus neben dem Berliner Medizinhistorischen Museum, sind sie zu finden. Besucher, sagt der promovierte Biologe Ulrich Creutz, kämen nur selten in den fensterlosen Raum mit dem blassen Schild „Rudolf-Virchow-Sammlung“. Auf einem Tisch liegen die jüngsten Neueingänge: fünf Menschenschädel. „Die kommen aus Venezuela und sind circa 5.000 Jahre alt“, erläutert Creutz. Der Erbe eines Sammlers habe sie vor kurzem gebracht.

Die Knochen und sonstigen Skelettreste, die hier in meterlangen Regalen in Holzschubkästen und graubraunen Pappschachteln lagern, sind wesentlich jünger. Nach Deutschland gebracht wurden sie von Kaufleuten, Offizieren und Soldaten der deutschen Kolonialtruppen oder Wissenschaftlern und Abenteurern. Einige von ihnen betrieben ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hinein in die 1920er-Jahre profitablen Gräberhandel. Die Abnehmer: so genannte National- oder Völkerkundemuseen in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Bremen. Oder Wissenschaftler wie der Berliner Arzt und Sozialmediziner Rudolf Virchow, der bis zu seinem Tod im Jahr 1902 eine Sammlung von rund 3.000 Schädeln anlegte. Creutz sagt, Virchow habe sogar eigens eine Anleitung „zum wissenschaftlichen Sammeln auf Reisen“ für Kaufmänner und Seeleute geschrieben. Die Umstände, wie die sterblichen Überreste von mehreren tausend Menschen aus allen fünf Kontinenten in Virchows Sammlung gelangten, seien heute kaum noch nachvollziehbar.

Neben der ursprünglichen Virchow-Sammlung lagern hier auch noch rund 6.000 Schädel aus der Sammlung des damaligen „Museums für Völkerkunde“ sowie Skelettreste aus Gräbern in Berlin-Mitte.

Als „koloniales Erbe“ will Creutz die Schädel und Skelettreste, die er seit knapp dreißig Jahren katalogisiert und hütet, nicht verstanden wissen. Sie seien „über ihn gekommen“. Zum Beispiel jene rund 1.000 Schädel- und Skelettstücke, die der damalige Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg von einer ausgedehnten Expedition in den Jahren 1907/08 in Zentralafrika, darunter den damaligen deutschen Kolonien Kamerun und Uganda, nach Berlin brachte. Auch sie liegen heute bei Creutz.

Lediglich sieben Schädel von verstorbenen Herero seien in der Sammlung aufgeführt, betont er. Auch hier sei unklar, wie sie nach Deutschland gelangten. Keine Ahnung, ob es sich um Opfer des Aufstandes handele.

„Eine Kiste von Hereroschädeln wurde kürzlich von den Truppen in Deutsch-Südwestafrika verpackt und an das Pathologische Institut zu Berlin gesandt, wo sie zu wissenschaftlichen Messungen verwandt werden sollen. Die Schädel, die von Hererofrauen mittels Glasscherben vom Fleisch befreit und versandfertig gemacht werden, stammen von gehängten oder gefallenen Hereros.“ Dies stand in dem Brief eines Offiziers der deutschen Schutztruppe in Namibia aus dem Jahr 1907. Die Historiker Martin Baer und Olaf Schröter zitieren ihn in dem Buch „Spurensuche“. Baer und Schröter merken dazu an, dass der Verbleib jener Schädel bis heute nicht geklärt worden sei.

Virchow habe „weltweit“ gesammelt; ihm sei es darum gegangen, „möglichst vollständige Serien“ aus unterschiedlichen Regionen zusammenzutragen, um dann so genannte „typische Merkmale“ nachzuweisen, formuliert Creutz. Befreundete Ärzte oder Geografen brachten von ihren Expeditionen als Gastgeschenke nach Berlin eben Skelette oder Schädel mit. Regelmäßig traf man sich in der seit 1867 aktiven Berliner Anthropologischen Gesellschaft, stellte die Ergebnisse der so genannten „messenden Anthropologie“ vor und plante die nächsten Reisen. Ethische Grenzen des Sammelns gab es nicht: Mal nahm man Schädel von zum Tode verurteilten Häftlingen mit, mal wurden Gräber geplündert.

„Psemskaja-Höhle“ steht mit schwarzer Tinte in altdeutscher Schrift auf der linken Seite eines glatten, bräunlichen Schädels, darunter die Zahl: V 1581. In einer knapp zwei Zentimeter dicken Findliste, für deren Zusammenstellung Creutz knapp zwölf Jahre benötigte, hat der Wissenschaftler unter den Nummern V 1582, V 1583 noch zwei weitere Schädel aus der gleichen Höhle sowie in lateinischen Abkürzungen das mögliche Alter der Verstorbenen und die Zahl der noch erhaltenen Zähne vermerkt. Es knistert, als Creutz sie aus den beigen Papiertüten nimmt, in denen die Schädel aufbewahrt werden. Doch außer der Vermutung, dass die Schädel Menschen gehörten, die vor knapp einhundertfünfzig Jahren im Kaukasus lebten, kann Creutz nichts über sie sagen.

Gut dokumentiert ist dagegen die Weiterentwicklung der so genannten „messenden Anthropologie“, die Virchow und andere etablierten: Sie bildete den Grundstein für die „rassenpolitische“ und eugenische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Deren führender Vertreter Eugen Fischer übernahm unter anderem die Virchow-Sammlung und die Sammlung des Völkerkunde-Museums ab Ende der 20er-Jahre bis zu seiner Emeritierung 1942 ins „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“. Zu Fischers Kollegen gehörte dann auch der Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele.

Selbst die Werkzeuge, mit denen die Wissenschaftler vor über hundert Jahren die Grundgedanken jener eugenischen Theorien legten, werden hier noch noch aufbewahrt: In einer braunen Stofftasche liegt ein so genanntes „Anthropometer“, dessen Messlatten mit einem kreisrunden Zirkel hin- und hergeschoben werden können – um Schädelrundungen abzumessen.

Nein, betont Creutz, Schädel von ermordeten Juden und Jüdinnen befänden sich nicht in den hunderten von Papiertüten, in denen die Skelettreste und Schädel aufbewahrt werden.

Die Organisatoren der „Anti-Colonial Conference“ haben klare Vorstellungen, was mit den Sammlungen geschehen soll: „Alle Schädel und andere Körperteile, die für rassistische Untersuchungen in die Metropole geschleppt wurden, müssen in ihren afrikanischen Herkunftsländern würdig begraben werden. Allein in Deutschland lagern einige tausend Schädel, die lebenden und toten Menschen in Afrika abgeschlagen wurden. Sie wurden vermessen, begutachtet und ausgestellt und sind noch heute unter Störung der Totenruhe Gegenstand rassenbiologischer Forschung.“

Ulrich Creutz sagt, in Fällen, in denen „berechtigte und nachweisbare Ansprüche“ erhoben werden, solle man die Schädel zurückgeben. Doch habe es die bislang nicht gegeben. Auch nicht von Seiten der Herero. Ansonsten solle man die Virchow-Sammlung als „Kulturerbe, nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle, die wissenschaftliches Interesse daran haben, aufbewahren“. Schließlich wisse man nicht, „woran zukünftige Generationen forschen wollen“.