Gefährlich hoher Datingfaktor

Vor allem Schwule nutzen Internetforen bei der Suche nach der großen Liebe und dem schnellen Sex. Doch die Online-Flirts locken auch Betrüger und unliebsame Mitleser an

von AXEL KRÄMER

Die Rosa Listen sind wieder da. Riesige Datensammlungen, die Auskunft geben über das Sexualleben schwuler Männer. Und dies in einem Ausmaß, das es so noch nie gab. Gespickt mit Details in Text und Bild, von denen selbst die ausgebufftesten Geheimdienstschnüffler nie zu träumen wagten.

Gaydar, Gayromeo und Gayroyal lauten die Namen jener Großdateien, unter denen die Profile von tausenden von Homosexuellen abgespeichert sind. Und zwar ganz freiwillig, denn es handelt sich dabei um kommerzielle Datingforen im Internet, die seit ein paar Jahren die schwule Kontaktkultur weltweit revolutionieren. Der Ansturm ist enorm: Bis zu tausend Neueintragungen innerhalb von 24 Stunden verzeichnet allein das Portal von Gayromeo in Deutschland. Tendenz steigend. Nie zuvor war die schwule Community so vernetzt.

Keine Frage: Das Internet ist in den vergangenen Jahren zu einem Medium geworden, das für Schwule kaum noch wegzudenken ist. Als Segen erweist es sich in solchen Gegenden, in denen es kaum oder überhaupt keine schwule Infrastruktur gibt. Endgültig passé ist das Gefühl, als Homo irgendwo hoffnungslos in der Provinz versauern zu müssen. Ein paar Mausklicks, und schon kann man sich mit Gleichgesinnten aus der näheren Umgebung verabreden, von denen man zuvor nichts wusste. Und die man ansonsten vielleicht nie kennen gelernt hätte.

Doch mehr noch als auf dem platten Land haben sich die Kontaktforen auch in Metropolen wie Berlin oder Köln zum Kult entwickelt. Wer in der Szene etwas auf sich hält, verfügt über ein entsprechendes Profil. In Homokneipen hört man schon mal Tuscheleien wie: „Siehst du den da drüben? Der hat ein Profil bei Gayroyal, der steht auf Sachen, da zieht’s dir die Schuhe aus.“

Eines ist sicher: Ihre eigenen Angehörigen hat die schwule Szene längst in allen Facetten durchleuchtet. Für Intimität bleibt da kaum noch Raum. Doch das scheint irgendwie niemanden groß aufzuregen, schließlich geht es darum, das Liebes- und Sexualleben effektiver zu gestalten – und dafür nimmt man schon mal in Kauf, dass mehr Leute über die eigenen Begierden Bescheid wissen, als eigentlich nötig wären.

Durch die große Bekanntheit ist der Datingfaktor unschlagbar hoch“, jubelte unlängst das TV-Magazin „Wahre Liebe“ über das Internetportal Gaydar, für dessen Jahresmitgliedschaft manche bereit sind, bis zu neunzig Dollar hinzublättern. Und tatsächlich: Nie zuvor gab es unter Schwulen so viel entblößende Selbstdarstellung, nie gab es eine so große Auswahl an Kontaktsuchenden. Nie hatten sie so viel Gelegenheit, mit anderen Männern rund um die Uhr zu kommunizieren, von der virtuellen Plauderei bis zur Verabredung an einem ganz realen Ort.

Selbst während der Arbeit am PC-Bildschirm im Büro wird gebaggert, was das Zeug hält – so zählt Gayromeo an einem normalen Montagmorgen bereits mehr als siebenhundert User auf seiner Berliner Online-Liste. Wer sich beispielsweise morgens im Büro bei Gaydar einloggt und die Mailbox diskret in der unteren Menüleiste versteckt, kann auch während der Erledigung der Buchhaltung die ganze Zeit über Botschaften empfangen, die in Echtzeit ins Bild springen: „Hey, hallo, na so was, du bist ja genau mein Typ. Hast du für heute Abend schon was vor?“ Auch auf die Gefahr hin, dass der Arbeitgeber mitliest.

Oder womöglich jemand, der alles andere als das Wohl des Users im Auge hat. In letzter Zeit mehren sich die Fälle, in denen schwule Männer sich mit einer Internetbekanntschaft im wirklichen Leben verabreden und beim Kennenlerntreffen feststellen müssen, dass sie in einen Hinterhalt geraten sind. Statt den erhofften einvernehmlichen Sex zu erleben, werden sie Opfer von Raub, Körperverletzung bis hin zu Mord. So berichtete der Spiegel im September von einem 15-Jährigen, der bei einem Blinddate von zwei Homosexuellen brutal getötet wurde.

Häufiger freilich sind die Fälle, in denen kriminelle oder homophobe Gewalttäter die Unvorsichtigkeit ihrer Chatpartner ausnutzen. Aus diesem Grund hat Maneo, eine Kooperation des Schwulen Überfalltelefons Berlin und der Opferhilfe, vor einer Woche eine Aktion „Safer Surfen – Vorsicht bei ‚Blind Dates‘ “ ins Leben gerufen (siehe Kasten). Ziel ist es, die Arglosigkeit vieler User zu problematisieren, die sich im Internet an einem geschützten Raum für Gleichgesinnte wähnen. So wenig der nächtliche Cruisingpark Sicherheit vor unliebsamen Bekanntschaften bietet, so wenig schützt das Eingangsportal der Internetforen, bei dem sich jeder Teilnehmer zunächst registrieren lassen muss, vor bösen Überraschungen.

So musste ein Lehrer aus dem hessischen Dillkreis vor kurzem erleben, dass sein Profil bei einem schwulen Internetforum von Schülern entdeckt worden war und schließlich die Schulbehörde eingeschaltet wurde. Mittlerweile ist der Vorgang auf dem Schreibtisch der hessischen Kultusministerin gelandet. Hans-Jürgen Irmer, bildungspolitischer Sprecher der hessischen CDU-Landtagsfraktion, fordert von der Ministerin die Überprüfung juristischer Mittel gegen den Lehrer. „Es gehe dabei nicht“, zitiert ihn das konservative Anzeigenblatt Wetzlar Kurier (dessen Herausgeber er gleichzeitig ist), „um die private homosexuelle Neigung dieses Lehrers, sondern ausschließlich darum, dass es nicht zu akzeptieren sei, dass jemand mit einem Erziehungsauftrag sich selbst und seine Neigungen im Internet im Prinzip prostituiert und präsentiert.“ Auch wenn zu klären bleibt, was Privatsache ist und welche Selbstdarstellung gegen bestehende Gesetze verstößt – unstrittig ist, dass die Offenherzigkeit mancher Forennutzer an sträflichen Leichtsinn grenzt.

Ein kurzer Klick mit der Maus, und schon erscheint das ganze Profil des Absenders. Häufig gleich mit Bild. Manche sind von dieser permanenten Erreichbarkeit für potenzielle Liebhaber so fasziniert, dass sie gleich den ganzen Tag über eingeloggt bleiben und bald Symptome einer Sucht aufweisen. Vor allem, wenn der Austausch von Datenflüssen zum Selbstzweck und die Suche nach einem physisch präsenten Gegenüber verdrängt wird.

Das kommt nicht gerade selten vor. Faker werden jene Teilnehmer genannt, die mit gefälschten Identitäten und geklauten Fotos operieren – für die überzeugten Fans der Kontaktforen ein echtes Ärgernis. Denn die meisten Teilnehmer versprechen sich, übers Internet endlich den idealen Partner fürs Leben zu finden, und zwar in Fleisch und Blut.

„Küss mich, ich bin ein verwunschener Prinz“, überschreibt etwa ein Neuling bei Gayromeo sein Profil. Einer, der offensichtlich den Froschkönig nicht richtig gelesen hat. Sonst wüsste er, dass man verwunschene Prinzen auf keinen Fall küssen soll. Ganz im Gegenteil: Man muss sie an die Wand schmeißen! Doch der Irrglaube mit dem Kuss ist unter Schwulen weit verbreitet, was dazu geführt hat, dass dort immer noch scharenweise virtuelle Frösche auf Erlösung warten. Sie ahnen nicht, dass man für echte Leidenschaft auch mal eine peinliche oder unangenehme Situation aushalten muss.

Doch gerade das soll die Suche in Kontaktforen wie Gaydar und Gayromeo vermeiden helfen. Überraschungen jeglicher Art sind dort nämlich nicht vorgesehen, alles wird vorab nach entsprechenden Suchkriterien festgelegt. Neben Angaben wie Körpergröße, Alter, Gewicht, Kleidung und Haarfarbe wird in der Datenmaske von Gaydar mit dem Hinweis, „so genau wie möglich zu antworten“, auch nach dem Beruf, der ethnischen Herkunft und dem Umgang mit Drogen und ungeschütztem Sex gefragt, nach der Schwanzgröße (in der Regel M bis XL), dem Beschnitten- oder Unbeschnittensein sowie der Körperbehaarung.

Bei Gayromeo erfährt man nicht nur, ob einer oben oder lieber unten im Bett liegt, ob er beim Sex eher eine aktive oder passive Rolle einnimmt, ob er einen festen Freund hat oder nicht, nein, auch zu fortgeschritteneren Sexualpraktiken wie Dirty Sex, Fistfucking, Sadomaso und jedweder Form von Fetischismus kann im Profil Stellung bezogen werden.

An Großaufnahmen von Schwellkörpern und weit aufgerissenen Körperöffnungen, die einem beim Anklicken der Bilder ins Gesicht springen, gewöhnt man sich recht schnell, und schon nach kurzer Zeit erscheint einem die technische Katalogisierung sexueller Vorlieben wie das Normalste der Welt.

Alles lässt sich vorab festlegen. Wer möchte, kann sich über die Suchmaske eine Liste von „perfekten Sexschlampen“ ausspucken lassen – so nennt Bette Midler in dem Science-Fiction-Film „Die Frauen von Stepford“ jene Roboterfrauen, die von Heteromännern nach ihren geheimsten Wünschen geformt werden. Diese Vision ist dank Gaydar und Gayromeo für Homomänner schon heute virtuelle Realität.

Tatsächlich hat kein anderes Phänomen der letzten Jahre dem Balzverhalten der schwulen Szene so nachdrücklich seinen Stempel aufgedrückt wie die Kontaktforen im Internet. Nie war schwule Sexualität so ausdifferenziert und spezialisiert wie heute. Die Kommunikation im Netz lässt Hemmschwellen sinken und schafft jenen Begierden eine Plattform, die ansonsten nicht zum Zug kämen. Viele haben so zu ihrer ganz persönlichen sexuellen Selbstverwirklichung gefunden. Das Internet macht es möglich: Sex sofort und ohne Anlauf, maßgeschneidert nach den eigenen Vorstellungen, ohne dabei groß etwas aushandeln oder einen Kompromiss eingehen zu müssen.

Wie wirkt sich die Veränderung der Kontaktkultur eigentlich auf die schwule Lebensqualität aus? Es ist erstaunlich, dass die Sexualwissenschaften dieser Frage bislang eine Antwort schuldig geblieben sind. Dass dabei etwas Wesentliches auf der Strecke bleibt, lässt sich allerdings auch so erahnen. Zum Beispiel die Bereitschaft, sich mit Unerwartetem und Unbekanntem auseinander zu setzen oder sich vielleicht auch mal überraschen zu lassen. Deshalb endet auch so manche Begegnung in den Kontaktforen mit Ernüchterung. Mit der Erkenntnis, dass, wenn man jegliche Differenz, jede Verführungskunst zu vermeiden sucht, sich am Ende nichts zu sagen hat. Schade eigentlich.

AXEL KRÄMER, geboren 1966, lebt als freier Autor in Berlin. Im März erscheint von ihm „Grenzen der Sehnsucht. Eine schwule Heimatkunde“ (Querverlag)